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Wir Kinder der Südtirol-Autonomie
Ein Land zwischen ethnischer Verwirrung und verordnetem Aufbruch

Inhaltsverzeichnis
Leseprobe:Südtirol in Stichworten                                   
Leseprobe:Kindheit zwischen den Sprachwelten             
Erbfeindschaften im Stammbaum                  
Entdeckung einer Zugehörigkeit                    
Der ethnische Einrückungsbefehl                  
Schmetterlinge im Bauch, Heimat im Kopf     
Die Vergatterung namens Volkszählung         
Traumberuf Lokführer, aber ...                        
Auf ins autonome Leben                               
"Alexander Langer - Sau, walsche"                
Die ohnmächtigen Rebellen                           

Die trojanischen Pferdchen der Italiener          
Ladinien, zwischen Sage und Zukunft
Das Lächeln der Macht
Ach Vaterland, es ist verspielt
Im Treibhaus der Autonomie
Die zwölf Stämme des gelobten Landes
Medien im Dolomiten-Land
Der geschlossene Hof und seine Nebenställe
Der Platz des vertagten Friedens
Nachtrag und Dank

 

 

           

 

 

Südtirol in Stichworten  An den Anfang

„Im Grunde sind wir beneidenswert. Heimat mehrerer Sprachgruppen zu sein, kann sicherlich viele Spannungen bedeuten. Aber es könnte darin auch eine Arznei gegen ihre provinzielle Verkümmerung liegen.“
Alexander Langer,

Skolast, Dezember 1980

 Südtirol, 7 400 km², davon 65 % über 1 500 m Meereshöhe, 450 000 Einwohner, 69,15 % Deutsche, 26,47 % Italiener, 4,37 % Ladiner (Volkszählung 2001), eine nicht erhobene, auf 10 000 bis 20 000 geschätzte Anzahl mehrsprachiger Familien. Die nördlichste Provinz Italiens gehörte bis 1918 zusammen mit dem italienischsprachigen Trentino und dem deutschsprachigen Nordtirol als Kronland Tirol zur Habsburgermonarchie. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs handelte sich Italien 1915 im Geheimvertrag von London für seinen Kriegseintritt an der Seite der Alliierten das Gebiet bis zum Brenner ein und brach dafür sein – allerdings nur für den Verteidigungsfall, nicht für Angriffskriege geschlossenes – Bündnis mit Österreich. Beim Waffenstillstand zwischen Österreich und Italien 1918 legten die österreichischen und Tiroler Truppen irrtümlich zu früh die Waffen nieder, sodass die italienischen Truppen kampflos das bis dahin in zähem Stellungskrieg verteidigte Gebiet besetzen konnten. Mit dem Friedensvertrag von Saint Germain von 1919 wurde Tirol geteilt und das Gebiet südlich des Brenners Italien zugeschlagen. Der italienische König versprach den Südtirolern den Erhalt ihrer Kultur und Eigenart. Nach der Machtübernahme der Faschisten 1922 begann eine Entnationalisierungspolitik, mit dem Verbot der deutschen Schule, der deutschen Sprache, der deutschen Bräuche; durch gezielte Industrialisierung wurden zunächst das Bozner und Meraner Talbecken mit italienischen Arbeitern besiedelt. Die Südtiroler leisteten gegen den Faschismus keinen offenen, sondern einen verborgenen Widerstand. Der Priester und Leiter der einzigen verbliebenen deutschsprachigen Tageszeitung „Dolomiten“, Kanonikus Michael Gamper, baute den illegalen Deutschunterricht auf, die so genannte Katakombenschule. Bis 1910 hatte es in Südtirol rund 3 % Italiener gegeben, 1921 waren es 10 % und auf dem Höchststand der Zuwanderung 34,3 %. 1939 vereinbarten Mussolini und Hitler im „Optionsabkommen“, dass die Südtiroler zwischen dem Verbleib bei Italien oder der Auswanderung ins Reich wählen sollten; damit verzichtete Hitler auf den deutschen Anspruch auf Südtirol. Die Option spaltete die Bevölkerung in „Optanten“ und „Dableiber“. Die einen fürchteten, dass sie mit dem Verbleib in Italien in italienische Provinzen umgesiedelt würden; sie glaubten den Versprechungen, in neuen deutschen Siedlungsgebieten gleichwertige Höfe, gleichwertige Täler, eine gleichwertige Heimat zu finden. Die anderen misstrauten Hitler-Deutschland, hielten an ihrem Hof, ihrem Besitz, ihrer Heimat fest und hofften, durch das Zusammenstehen auch den Faschismus zu überleben. Rund 87 % entschieden sich für die Auswanderung, 13 % für das Bleiben. Von über 210 000 Optanten wanderten 75 000 tatsächlich aus und wurden später zum Teil „rückgesiedelt“. Der Kriegsausbruch stoppte die Auswanderung, nach dem Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten marschierten 1943 die deutschen Truppen in Italien ein, Südtirol gehörte zur so genannten Operationszone Alpenvorland. Die zwei Jahre NS-Herrschaft forderten mehr Todesopfer unter der Zivilbevölkerung als 17 Jahre Faschismus. Wegen Widerstandes gegen das NS-Regime wurden 24 Südtiroler erschossen, 166 in Konzentrationslager verschleppt, 140 inhaftiert. Nach der deutschen Kapitulation 1945 rückten im Mai 1945 die Alliierten in Südtirol ein, am 8. Mai gründete Erich Amonn offiziell nur mit Dableibern und mit Zustimmung der Alliierten die Südtiroler Volkspartei (SVP). Am 1. Mai 1946 lehnten die Außenminister der USA, Englands, Frankreichs und der Sowjetunion die österreichische Forderung nach einer Volksabstimmung in Südtirol ab. Bei den Friedensverhandlungen von Paris vereinbarten Österreich und Italien 1946 kulturelle Schutzbestimmungen und eine Selbstverwaltung der Südtiroler, das „Gruber-Degasperi-Abkommen“ oder der „Pariser Vertrag“. Im ersten Autonomiestatut von 1948 verblieben die wichtigsten autonomen Zuständigkeiten bei der Region Trentino-Südtirol, in der die Südtiroler einer italienischen Mehrheit gegenüberstanden. Die italienische Zuwanderung hielt, gefördert durch Wohn- und Wirtschaftsprogramme der Regierung, weiter an. Ab 1956 kam es zu Anschlägen. 1957 forderten die Südtiroler mit Silvius Magnago an der Spitze auf Sigmundskron das „Los von Trient“, 1960 wurde die UNO erstmals mit dem Streitfall befasst, 1961 wurden in einer einzigen Nacht, der „Feuernacht“, 47 Anschläge auf Strommasten verübt. Es kam zu Massenverhaftungen, Folterungen und anhaltendem Terror. Die italienische Regierung lenkte auf Verhandlungen ein. In einer zweiten UNO-Resolution wurden Österreich und Italien 1961 erneut aufgefordert, eine Lösung zu finden. 1969 nahm die SVP mit knapper Mehrheit das von Magnago mit der italienischen Regierung ausgehandelte „Paket“ an, 1972 traten die Paketmaßnahmen als Gesetz von Verfassungsrang in Kraft – das „zweite Autonomiestatut“. Die Durchführung des Pakets verschleppte sich, es kam trotz großer Erfolge zu neuen Konfrontationen, einer neuen Attentatswelle, neuen Forderungen nach Selbstbestimmung und einem wachsenden Protest über die als zu starr empfundenen Schutzinstrumente. An der ersten namentlichen Erhebung der Südtiroler nach Sprachgruppen, der Volkszählung 1981, entzündete sich der Kampf gegen die ethnische Teilung der Bevölkerung, „die neue Option“. 1992 wurde das Paket „abgeschlossen“, Österreich gab vor der UNO die „Streitbeilegungserklärung“ ab. 2001 beschloss der Gemeinderat von Bozen auf Antrag des italienischen Bürgermeisters, den nach Italiens Einmarsch 1918 benannten „Siegesplatz“ in „Friedensplatz“ umzubenennen, am 6. Oktober 2002 erreichte die Mehrheit der italienischen Bevölkerung bei einem Referendum die Rückbenennung in „Siegesplatz“.

 

Kindheit zwischen den Sprachwelten -  An den Anfang

1969 war ich acht Jahre alt. Ein Südtirol-Problem gab es für mich nicht; es gab die unscharfe Erinnerung an Soldaten, die vor den wechselnden Bahnhofsgebäuden, in denen ich aufwuchs, auf und ab marschierten.

Am Brenner, 1961, dem Jahr meiner Geburt, herrschte Ausnahmezustand. Die Südtirol-Attentate verwandelten diesen Marktflecken mit seinen Grenzgasthäusern, Kiosken, Gelati-Standln und Würstelbuden in ein Militärlager. Über die Grenze kamen die Waffen- und Sprengstofflieferungen für die Attentäter, oft von feschen jungen Müttern unter Windelpackungen versteckt; über die Grenze zogen sich die Helfer aus Österreich und Deutschland zurück, während hinter ihrem Rücken die Rohbauten für italienische Ansiedlungen einstürzten, faschistische Denkmäler in die Luft flogen und Strommasten umknickten.

Das Leben am Brenner ging trotzdem weiter, etwas erschwert, weil das Einkaufen „drüben“ für die Familien „herüben“ strenger kontrolliert wurde. Wir wohnten im Bahnhofsgebäude, „direkt bei der großen Uhr“, erzählte mir meine Mutter später. Wenn sie vom Brenner sprach, war eine Sehnsucht in ihrer Stimme, nach diesem kalten zugigen Ort, wo hinter der Grenze Österreich beginnt. Die Brenner-Leute müssen ein eigener Schlag sein, viele arbeiteten beim Zoll, bei der Bahn, bei Speditionsfirmen, fast niemand hatte Verwandtschaft in der Nähe, niemand hatte Wurzeln; deutsche und italienische Familien lebten sehr eng zusammen. Ein Katzensprung und man war in Österreich – ein Katzensprung und die Österreicher waren in Italien, getrennt durch einen Schlagbaum, der durch Gewöhnung zum Bestandteil des Dorfbildes wurde. Die Überquerung der Grenze war eher ein liebenswürdiges Alltagsritual als eine Behinderung.

Wenn man eine Grenze nicht politisch betrachtet, hat sie ihr Flair. Österreichische und italienische Grenzer trafen sich wechselseitig in ihren Stammkneipen, Bars und Gasthöfen. Schokolade kauften wir jenseits, Kaffee diesseits der Grenze. Die wenigen deutschen Familien hielten fest zusammen. Aber wenn meine Mutter die Menschen aufzählt, die sie gerne mochte, kommen ihr spontan auch die Namen der italienischen Brenner-Familien über die Lippen. Der Ausbruch der Gewalt in Südtirol um 1960, die Verfolgung ganzer Jahrgänge junger Südtiroler Burschen, die Nachrichten von Folterungen in den Carbinieri-Kasernen, die Überfälle auf Grenzposten in den Bergen, das Massenaufgebot an Polizei und Heer zur Sicherung einer Krisenprovinz und einer Staatsgrenze – all das schwärzte den Namen Südtirols in Europas Schlagzeilen ein; meine Kindheit verfinsterte es nicht.

In Gargazon im Etschtal, wohin meine Familie 1962 mit dem nächsten Karriereschritt des Bahnhofvorstehers Eduard Peterlini weiterzog, spielten die Soldaten mit mir. In Neumarkt, wo wir ab 1965 lebten, schob nur noch ein Soldat auf einem vereinsamten Vorposten zwischen den Schienensträngen Wache. Regelmäßig wurde unser Keller durchsucht, weil durch die Kohlenschächte Bomben eingeworfen werden hätten können.

Bald gehörte auch das Wachhäuschen uns, den Kindern vom Bahnhof: Nadia Rossi, Rodolfo Pizzaia, den Geiers und uns Peterlinis. Die Geiers und wir Peterlinis waren die zwei deutschen Familien am Bahnhof. Nadia wohnte direkt unter uns im Bahnhofgebäude, Rodolfo auf der anderen Seite der Geleise. Eher als nach Sprachgruppen steckten wir nach Altersgruppen zusammen – meine älteren Geschwister mit den Geiers, ich mit Nadia und Rodolfo. Wir spielten je nach Zusammensetzung auf Deutsch oder Italienisch, jeder wusste oder glaubte zu wissen, was er war, aber jedem erklärten die Eltern: Es gibt auch gute Italiener. Es gibt auch gute Deutsche. Mit meiner Nonna väterlicherseits, einer Welschtirolerin, spazierte ich durch die Obstwiesen und sang italienische Kinderreime: Ninna, nanna bel poppin, fa la pippi sul cuscin.

Wie ich Italienisch gelernt habe, weiß ich nicht mehr. In meiner Erinnerung laufe ich mit Nadia zwischen abgestellten Waggons und Holzbaracken herum, sie spricht kein Wort Deutsch, ich kein Wort Italienisch. In meinem kindlichen Zeitgefühl dauerte es ein paar Stunden, höchstens Tage, bis ich mit Nadia Italienisch sprach. Bestimmt dauerte es länger, verstanden haben wir uns in der Geheimsprache der Kinder auf Anhieb.

Neumarkt ist, wie wir stolz aufzusagen lernten, der Hauptort des Südtiroler Unterlandes, gut 100 km vom Brenner entfernt gelegen, der südlichste Ausläufer Südtirols. Es ist das Gebiet „von Sigmundskron der Etsch entlang bis zur Salurner Klaus“, wie es im Südtiroler Heimatlied besungen wird. Die Talsohle des Unterlands ist mit dem Etschtal die größte zusammenhängende Obstanbaufläche Europas, an den Berghängen wächst Wein, nirgends ist Südtirol mediterraner als hier, der nahe gelegene Kalterer See ist der wärmste Badesee der Alpen. In meiner Kindheit gab es noch vereinzelt Viehställe in den Taldörfern. Auf den Feldern, unter Maria Theresia dem Sumpf abgetrotzt und Möser genannt, wuchs der „Türkn“, der Mais. Nur in einigen wenigen Dörfern – Aldein, Altrei, Truden, den Montaner und Kurtatscher Fraktionen – ist das Unterland auch Berggebiet. Neumarkt ist mit rund 4 000 Einwohnern das größte Dorf im Unterland, mit seinen mittelalterlichen Lauben auch das urbanste. Rechnet man Leifers dazu, das eher an Bozen angewachsen ist, sind es knapp 290 km² und 33 000 Menschen, nicht einmal 5 % des gesamten Landes. Aber durch seine ethnische Durchmischung und seine Grenznähe ist das Südtirol-Problem hier verdichtet, sind die Spannungen gelebter Alltag.

Die deutsch-italienische Sprachgrenze liegt knapp zehn Kilometer südlich von Neumarkt bei Salurn, geografisch wuchtig in Szene gesetzt durch die Salurner Klause mit der auf einer Felsnadel balancierenden Haderburg. Darunter windet sich die Etsch in gezähmten Mäandern südwärts. Wer mit dem Rad die alte Weinstraße von Tramin über Kurtatsch und Margreid nach Salurn und dann weiter radelt, wird kaum merken, dass er eine Grenze überquert. Er wird in Mezzocorona vom Rad steigen und sich wundern, dass plötzlich kein deutsches Wort mehr gesprochen wird. Die Landschaft wird fast unmerklich karger, felsiger, der Baustil schmuckloser, und plötzlich ist es eine andere und doch verwandte Welt.

Oft bin ich mit Rodolfo – ein Jahr älter als ich und deshalb immer eine Spur größer, schneller, stärker – diese Strecke geradelt. Hinüber nach Tramin, hinauf nach Kurtatsch, dann bergab mit gesenktem Kopf, um die Windschlüpfrigkeit zu erhöhen, hinunter nach Margreid, schließlich der Schlussspurt über die lange Gerade Richtung Mezzocorona. Beim Schild, das den Übergang zwischen der Provinz Bozen und der Provincia di Trento anzeigte, rissen wir stolz die Arme hoch – geschafft! Abgekämpft radelten wir zurück.

Ungefähr zur selben Zeit, als wir zwischen den Sprachwelten pendelten, hat Franz Tumler (1912–1998), der Altmeister der Südtiroler Literatur, genau an dieser Strecke erforscht, wie eine Sprachgrenze entsteht – in Gedanken die Orte abwandernd, wie es seine Art war. Er ist dabei auf ein Vorkommnis gestoßen, das sich um 590 v. Chr. abgespielt hat. Ein fränkischer Herzog namens Chramnichis stieß auf seinen Raubzügen über Meran bis nach Trient vor, wurde dann aber bis Salurnis zurückgeworfen. Hatte Chramnichis, dessen Feldzug nicht mehr als eine Piraterie zu Lande gewesen war, dort ein für alle Mal die Grenze markiert? Mehrmals noch wurde Salurn mit dem gesamten Unterland dem Welschland einverleibt (als Besitz des Trienter Bischofs, als Teil der Provinz Trient). Aber die Sprachgrenze blieb unverrückbar.

Ähnliches lässt sich beobachten, wenn selbst Dialekte ein und derselben Sprache Talschwellen einhalten. Von einem Kilometerstein auf den nächsten färbt sich die Sprechweise ein. Die deutsch-italienische Sprachgrenze verschob sich nicht, als Tirol unter Habsburg von Kufstein bis zum Gardasee reichte – bis Ala, oder genauer, bis zum kleinen Borghetto unterhalb von Rovereto. Mezzocorona war italienisch, auch als es in Urkunden Kronmetz genannt wurde und zu Österreich gehörte. Ebenso wenig verschob sich die Sprachgrenze, als Italien bis zum Brenner reichte und das Unterland verwaltungsmäßig der Provinz Trient angegliedert wurde. Das faschistische Regime ersetzte die Südtiroler Lehrer durch italienische Lehrkräfte, verbot die deutsche Schule, schrieb die Namen auf Taufscheinen, Grabsteinen und Ortstafeln um, aber die Sprache der Menschen konnte es nicht verändern.

Verwischungen, Ausfransungen, Oasenbildungen gibt es. Salurn: mehrheitlich italienisch, seit alters her, aber mit einer deutschsprachigen Minderheit, die mit Stolz und Militanz ihr Deutschsein behauptet. Die Sprachgrenze geht mitten durch Familien. Der eine Bruder versteht sich als Italiener, der andere als Deutscher, und das pflanzt sich fort in den Stammbaumverzweigungen, unabhängig von Herkunft, Familienname, Familiensprache. Auf der westlichen Talseite Margreid und Kurtinig: mehrheitlich deutsch, mit einer starken italienischen Sprachgruppe, mit deutlicher Gruppenbildung, aber meist ohne ethnischen Zank. Man hat sich hier, wo die Zuwanderung nicht erst auf faschistischen Druck erfolgte, zusammengelebt in jahrhundertelanger Nachbarschaft. Dann die „rein deutschen“ Dörfer – ungezwungen das höher gelegene Kurtatsch, kammschwellend Tramin. Auch hier waren nach den germanischen Stämmen die Römer da, die Menschen haben oft einen auffallend gedrungenen Körperwuchs, heißen unter anderem Ferrari, Romagna, Bologna, Calliari, aber das Dorf empfindet sich als deutsche Bastion im Unterland, in der fast nur die Angehörigen der Carabinieri-Familien Italiener sind. Der Neumarkter Bahnhof, wo ich aufwuchs, liegt auf Traminer Gebiet, aber näher bei Neumarkt: Zur Impfung mussten wir Bahnhofskinder nach Tramin auf der rechten Seite der Etsch, zur Schule gingen wir in Neumarkt auf der linken Seite – die „Enderwassrigen“, nannten uns die Traminer.

Auf der linken Talseite ist das Unterland bis nach Bozen ethnisch durchmischt: die an Größe und Bedeutung rivalisierenden Hauptorte Neumarkt und Auer mit knappen deutschen Mehrheiten, das mehrheitlich italienische Branzoll, schließlich Leifers, nicht erst überwiegend italienisch, seit es Bozens Vor- und Schlafstadt geworden ist. Und drüben, südwestlich von Bozen an den Berghang geduckt, das kleine Pfatten, eine italienische Enklave. Hier im Unterland gibt es, was mich schon als Kind verwundert hat, eine Südtiroler Rarität: italienische Bauern. Ansonsten ist das Land, sein Boden, in „deutscher Hand“.

Für das Unterland war das italienische Trentino jahrhundertelang eine Nachbarprovinz, Teil des alten Tirols, mit Schützenkompanien, die in den Franzosenkriegen genauso verbluteten wie die Passeirer auf Südtiroler oder die Landecker auf Nordtiroler Seite. Die nationalstaatliche Idee an der Schwelle des 20. Jahrhunderts trieb sich wie ein Keil zwischen die Menschen diesseits und jenseits der Salurner Klause. Die neue Maxime, wonach die Staatsgrenzen mit den Sprachgrenzen übereinzustimmen hätten, musste in einem Vielvölkerreich, wie es das alte Österreich war, ein ethnisches Knirschen auslösen. Anschaulichster Ausdruck, wie nationale Gruppen des welschen und des deutschen Tirols gegeneinander Stellung bezogen, war der Denkmalbau in Bozen und in Trient – hier für Walther von der Vogelweide (1889), dort für Dante Alighieri (1896).

Vorher hatte es diese scharfe Grenzziehung nicht gegeben. Der Anführer der Tiroler Freiheitskämpfe in den Franzosenkriegen, Andreas Hofer, hatte noch im Trentiner Dorf Cles die Schule besucht und Italienisch gelernt. Die Feinde waren nicht ethnisch uniformiert, sondern religiös (die Heere der Aufklärung) und dynastisch (Napoleon mit Bayern und Sachsen gegen das „Haus Österreich“). Später, als um 1890 mehrere Katastrophenjahre die Landwirtschaft im Trentino und im Unterland heimsuchten, setzte zuerst eine Abwanderung von Trentinern ins deutsche Südtirol ein; dann die gemeinsame Auswanderung von Trentinern und Südtirolern, vorwiegend Unterlandlern, nach Amerika. Nachfahren meiner Trentiner Verwandten leben heute in Brasilien.

Das Unterland ist Durchgangsland, ein weites Tal, das mir immer ein wenig offener schien als die meisten anderen Südtiroler Täler. In Neumarkt bestaunten wir Kinder das Ballhaus, wo im 19. Jahrhundert die Warenballen für den Flussverkehr gelagert wurden. Auf der Etsch war Handel mit dem Süden betrieben worden, flussabwärts mit Flößen, die auf der Heimkehr von Pferden gezogen wurden. Aus dem Fleimstal, ehedem ein ladinisch besiedeltes, jetzt italienisches Tal an der Berggrenze zum Unterland, kam das Holz und mit dem Holz kamen die Arbeiter ins Unterland.

Das alles gab es in meiner Kindheit nicht mehr. Nur die Familiennamen gab es noch. Die Zambaldis, die Bampis, die Dellavajas – alles deutschsprachige Familien, deren Väter, Großväter oder Urgroßväter von irgendwoher gekommen waren, als Handwerker, Händler, Holzarbeiter, Flößer.

Meine Großeltern väterlicherseits – Giovanni Peterlini und Giulia Bressan – waren noch unter Österreich vom Trentino ins deutschsprachige Tirol gezogen: zuerst nach Siebeneich, wo mein Vater 1912 geboren wurde, dann nach Gries bei Bozen, wo Nonno – radebrechend deutsch sprechend, aber bei den Weinbauern beliebt – zunächst Kellermeister war, bis sich eine neue berufliche Chance ergab. Nach dem Anschluss Südtirols an Italien mussten 1922 rund 90 % der Südtiroler Eisenbahner auswandern. Viele von ihnen waren in anderen Gebieten Altösterreichs geboren. Da die Eisenbahner meist sozialdemokratisch gesinnt waren, wurde ihnen von den konservativen Tiroler Gemeinden das behördliche Heimatrecht vorenthalten. Wer es bis zum Kriegseintritt Italiens am 23. Mai 1915 nicht erhalten hatte, fiel nach dem Anschluss an Italien durch die Klauseln des Friedensvertrages von Saint Germain. Die meisten „roten“ Eisenbahner verloren Arbeit und Wohnrecht, von der italienischen Verwaltung verdrängt und vom konservativen Deutschen Verband nicht verteidigt. Nonno bekam eine Stelle bei der Bahn in Bozen. Nonna riet ihm dazu, das sei eine Lebensstelle.

Ich habe meinen italienischen Großvater, 1957 gestorben, nicht mehr gekannt, mein Vater hat mir von ihm in wenigen überlieferten Anekdoten das Bild einer urgemütlichen anspruchslosen Persönlichkeit vermittelt. Meine Nonna verbrachte, seit wir in Neumarkt eine größere Dienstwohnung hatten, die Sommer bei uns. Eine Beziehung zum Trentino gab es aber nie. Nicht ein einziges Mal bin ich mit meinen Eltern an den Herkunftsort der Peterlinis gefahren. Manchmal habe ich meinen Familiennamen groß auf Bussen gelesen: Ein uns unbekannter Peterlini führt am Gardasee ein Reiseunternehmen, das dem Fuhrpark nach recht erfolgreich sein muss. Später hat mir ein väterlicher Freund, der Roveretaner Rechtsanwalt Sandro Canestrini, von jenem unwirtlichen Gebirgstal bei Rovereto erzählt, wo es von Peterlinis wimmelt. „Du musst hingehen“, sagte er, „aber zieh dir feste Schuhe an.“

Anders als die meisten Unterlandler fuhren wir auch nie zum Einkaufen ins billigere Trient. Wir fuhren nach Bozen. Fast jeden Sonntag schob uns die Mutter der Reihe nach in den Zug, um Omama und Opapa zu besuchen, meine Großeltern mütterlicherseits. Das war die nähere Welt meiner Herkunft: ein Haus am Staudenwald bei Kampenn, direkt hinter dem Virgl-Tunnel; ein Pudel namens Schnucki, dem das Fell nicht rasiert wurde, Hühner im Garten und manchmal auch in der Küche; eine Stube, von Opapa selbst aus Zirmholz getischlert und mit Schnitzereien verziert; der Holzherd mit Ruß am Boden, der Geruch aufgewärmter Milch.

Omama: eine geborene Pichler aus Völs, sie führte in Kampenn einen Buschenschank; akkurat gebundenes Haar, eine abgearbeitete, zierliche, aber zähe Frau, flink in den Bewegungen, voll Lebensmut, streng in den Prinzipien und großzügig in deren Anwendung, eine Großmutter Courage. Opapa: der Schwienbacher Karl aus Ulten, der gutmütigste Schnurrbart der Welt in einem Gesicht, das immer zu lachen schien, sein Klumpfuß verschaffte ihm Autorität, mit seinen Krücken spielten wir. Wir tanzten ihm auf Nase und Pfeife herum. Mehrmals verbrachte ich die Ferien auf den Höfen unserer Ultner Verwandten: Heuarbeit auf steilen Wiesen, Frauen mit großen Buckelkörben, Kühe im Stall, allerlei abenteuerliches Gerät, Holzseilbahnen, Mühlwerke, Sensen und Dreschflegel.

Die andere Welt meiner Herkunft: Nonna, schlohweißes Haar, zusammengehalten von einer Haarnadel, mit der sie sich zum Entsetzen meiner Mutter auch die Ohren putzte. Sie schwindelte beim Kartenspielen, warf zornig alles hin, wenn sie gegen mich verlor, und drückte mich zwei Minuten später gegen ihren Bauch, der mich wie eine kuschelige Polsterlandschaft verschluckte. Beim Mittagsschlaf schnarchte sie, dann schlurfte sie stundenlang mit dem Rosenkranz in den Händen den Gang auf und ab und murmelte das Ave Maria. Aus dem Trentino kam manchmal Besuch in unsere Welt: Sympathische, laute Menschen, die davon schwärmten, dass bei uns alles besser sei, und mich abbusselten und herzten. Germana etwa, die irgendwann stolz verkündete, sie sei jetzt beim Partito Popolare Tirolese, der Autonomistenpartei des Trentino. Es war immer etwas los, wenn die Trentiner kamen. Waren Ultner Verwandte auf Besuch, saßen ernste, herzliche, aber stille Menschen um den Tisch, nickten nachdenklich und erzählten sich das Notwendigste.

Einmal im Jahr kam ich doch nach Trient, die Hand meines Vaters zog mich kundig durch das große Bahnhofsgelände, denn er kannte sich aus in Bahnhöfen, fand blind die Klos und das Dopolavoro, wo wir bei Ausflügen eine Pasta asciutta bekamen. In Trient wurde für die Eisenbahnerkinder der Region Trentino-Südtirol die Befana gefeiert. Das ist die italienische Weihnachtstante, die zu Dreikönig erscheint. Die Bescherung – zwei Wochen nach dem vertrauten Christkind – blieb mir fremd. Es war ein schrilles, ohrenbetäubendes Fest in einer großen Halle. Über einen Lautsprecher wurden die Kinder ausgerufen, die ihr Geschenk abholen sollten, meist irgendein Firlefanz aus Plastik, der bald kaputt ging – ich habe keines dieser Geschenke in Erinnerung behalten, was einiges über ihren emotionalen Wert aussagt. Ich spielte mit italienischen Kindern, ich sang mit meiner Nonna italienische Lieder, ich lauschte ihren Märchen, die sie mir bei den Spaziergängen erzählte, aber, vor diese laute, völlig italienische Welt gestellt zu werden, löste Unbehagen aus. Da gehörte ich nicht dazu.

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