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Die unendliche Gegenwärtigkeit des Zauns

Als wäre keine Zeit vergangen oder die Zeit zu sich zurückgekehrt, entstand dort, wo einst die Mauer stand, ein Zaun, der eine Mauer wird. Der Ort ist vergangen, die Mauer gefallen, der Zaun kehrte wieder und wird Mauer. Von diesem Ort soll die Rede sein als einem Ort, der überall ist, denn der Zaun ist überall, war da, bevor die Mauer da war, kehrt wieder, wenn die Mauer fällt. Der Zaun ist ein Naturgesetz. Die Mauer ist seine Versteinerung.

Wenn ich mein Haus verlasse, das aus Mauern ist, stehe ich vor einem fünf Meter hohen Zaun, an dem sich schütter Efeu rankt, dahinter das Fußballfeld des Schülerheims. Der Zaun fängt die Bälle, fängt sie ab im Flug, lässt sie zurückfedern aufs Feld. Dem Efeu bietet er Halt. Das ist jenseits des Zauns. Diesseits drücken meine Kinder ihre Nasen und Wangen gegen den Maschendraht um hinüberzuschauen. Das Aufhalten der Bälle. Das Halten des Efeus. Das Hinüberschauen.

Zwischen einem Holzzaun, der den Blick mannshoch versperrt, und einem lebenden Zaun, der in Stufen wächst, führt ein schmaler Weg aus dem Garten auf die Straße. Hinter dem Holzzaun liegen das Schülerheim und dessen Hinterhof, hinter dem lebenden Zaun liegen die Vorgärten der Nachbarn, unterteilt von üppigem Kirschlorbeer, der je nach Schutz- und Sonnenbedürfnis in Stufen wächst.

Ich könnte die Familien nennen, die hinter den Zäunen wohnen: Frau A., die Witwe, die mit ihrer Tochter lebt, eine kleine Wohnung, ein kleiner Rasen ohne Pflanzen, der Kirschlorbeer niedrig gehalten, knapp ein Meter hoch, der Blick frei. Wenn Frau A. am Fenster steht, sieht sie, wer kommt, wer geht, wer vorbeigeht. Daneben ein Garten, der scheinbar niemandem gehört, in den niemand hineinsieht, aus dem niemand herausspäht, die Wohnung schaut auf die andere Seite, nach Westen, der Garten liegt unbeachtet in ihrem Rücken, das Gras wächst in Büscheln, nur der Lorbeerzaun wird gepflegt, zweiundeinhalber Meter hoch. Zur Straße hin: Familie L., kein Kirschlorbeer; Ziertannen, millimeterscharf rasiert, drei Meter aufragend. Familie L. wacht über den Eingang, damit niemand das kleine Gatter offen lässt, das die Wohnanlage von der Straße trennt, die auf die Hauptstraße führt.

Die Straße hinaus auf die Hauptstraße ist gesäumt von einem Zaun, der auf einer Mauer steht. Zur Erde hin Mauer, gegen Himmel hin Zaun, so als dürfte der Schutz von unten nach oben allmählich gelockert werden, bis er gen Himmel hin überflüssig wird und aufgehoben werden darf. Ist der Zaun ein Bedürfnis, dann ein irdisches. Er wächst aus der Erde, er löst sich gen Himmel hin auf. Der letzte Zaun der Welt sind die Ausfransungen der Atmosphäre in das vermeintliche Nichts des Kosmos hinein. Dort endet die Welt und beginnt das Unfassbare, endet unsere Wohnanlage, beginnt die Straße ins Haltlose. Der letzte Zaun der Welt ist die Grenze zwischen dem greifbaren Etwas und dem ungreifbaren Nichts, eine dünner und dünner werdende Hülle aus wechselnden Arten von Luft, eine Membran, hinter deren verletzlicher Haut unser Leben schlägt.

Wir gelangen in die Welt, indem wir eine Hülle zerfetzen, die uns neun Monate lang geborgen hielt, eine Badewanne bildete aus Frucht- und Lebenswasser, die wir verlassen müssen, um ans Licht zu gelangen und ins eigenständige Leben. Die Flossen- und Kiemenwesen, die des Menschen Vorfahren waren, bevor sie dem Wasser entkrochen, waren eingehüllt in ein sie umsorgendes, umspülendes, schützendes Elixier. Kühlte es ab um ein, zwei lebensbedeutende Grade? Wurde das Plankton knapp darin, sank der Wasserspiegel, waren ungeheuere Feinde aufgekommen, die nichts übrig ließen, was ihnen zwischen die Klauen kam? Wir vermuten: Die Wesen, die unsere Vorfahren waren, noch lange bevor sie irgendetwas wie Affen, irgendetwas wie Menschen wurden, trieben auf den Zaun aus Gischt und Wellen und Riffen zu, ließen sich hinausspülen aus ihrer Welt in eine andere, in der sie nach Luft schnappen mussten, in der sie sich nur mit äußerster Anstrengung und unter Schmerzen fortbewegen konnten, wo sie vorher sanft getragen worden waren vom Elixier, hinaus in eine Welt der Schwerkraft und des steinigen, staubigen, schlammigen Grundes, in der sie starben und starben und starben, bis einige wenige den Wechsel schafften, vielleicht jene, deren Vorfahren schon in der Grenzzone gehaust hatten und vielleicht immer wieder in Millionen Jahren währenden Schritten die Überschreitung versucht hatten, in Versuchung geraten waren. Durch Versuchung verlässt der Mensch das Paradies, die Versorgtheit, die Sorglosigkeit, nimmt ein Leben in Mühe auf sich, ein eigenes Leben. Vor ihm war gewesen: Wassertierchen robbten an Land mit nur noch schlecht funktionierenden Kiemen, die zu Lungen wurden und Luft atmeten, mit verhärtetem Flossen- oder Quallengewebe, das im Wasser störend war und nun Hilfe und Halt bot beim Kriechen im Staub. Sie hatten den Zaun überschritten aus einem geschützten, aber zu eng, zu dünn gewordenen Leben in ein anderes, fremdes, das nun das ihre, das eigene werden sollte. Im Zaun und im Überschreiten des Zauns ist festgeschrieben der Menschheits-, der Lebensmythos.

Wie kommt der Zaun in die Welt? Nichts ist in der Welt, das nicht in der Welt ist. Des Menschen Schaffen, so einbildungsstark er sich wähnt, hat eine unerbittliche Grenze –  wir können nur bilden, was uns eingebildet ist, was wir als Bilder in uns tragen als Erinnerungen an das, was vor uns war, was um uns ist. Kein außerirdisches Wesen, kein artfremdes Monster, keine Ungestalt in welchem science fiction auch immer ist aus irgendetwas anderem geschaffen denn aus – bestenfalls entstellten, meist nur verstellten – Bestandteilen unseres Alltags: Die absonderlichsten Raketen sind aus Vorbildern zusammengebaut, die es in jedem Gemüsegarten, in jedem Spielzimmer, in jedem Keller, in jedem Zoo gibt, aus denselben Formen, aus denen unser ganz normales Leben ist. Der Zaun ist nicht vom Himmel gefallen, er war da, immer schon. Wir haben ihn nachgebaut: aus Flechten geschlungen und geknüpft, Pfahl an Pfahl in die Erde geschlagen, aus Steinen geschichtet, aus Draht geflochten, aus Kunstfasern gestrickt, gestreckt, gezogen, mit Strom geladen, in Beton gegossen. Der aus Weiden gebundene Zaun, der Lattenzaun, der Bretterzaun, der Weidezaun, der Stacheldrahtzaun, die Mauer.

Wenn wir das Menschengedächtnis rückwärts abschreiten, gelangen wir von Zaun zu Zaun zu Zaun. Vor dem Zaun war ein Zaun war ein Zaun. Auch das Korallenriff, über das hinaus das Leben vom Wasser auf die Erde gelangte, war nicht der erste Zaun. Der erste Zaun, oder sagen wir: der vorläufig erste Zaun, denn wir wissen nicht, wie viele Zäune noch dahinter liegen, dieser angenommene erste Zaun war eine Membran, die eine Zelle von dem abgrenzte, was sie umgab, umspülte, umfloss, mit dem sie eins war, bevor sie eine wurde, ein Punkt in der Ursuppe, der sich zu unterscheiden begann, indem er abgegrenzt wurde durch eine Haut, die ihn abschied vom Rest. Der erste Zaun., oder sagen wir: dieser vorläufig erste Zaun hatte alle Eigenschaften, die einen Zaun ausmachen: Er musste durchlässig sein, denn Leben in der Zelle war nur möglich, wenn die Ursuppe durch sie durchfloss, er musste eine Grenze bilden, denn Leben in der Zelle war nur möglich, wenn die Ursuppe draußen gehalten wurde. Mit diesem ersten Zaun entstand das Ich einer Zelle, die nicht mehr im Wir aufging, sondern ein Eigenes bildete, die nicht mehr ungeteilt, sondern ein abgesondertes, besonderes Teil des Ganzen war. Das durchlässige Teilen ist die Ureigenschaft des Zauns.

Der Zaun teilt: Zwischen Ich und Du, zwischen Innen und Außen, zwischen Hier und Dort, Drüben und Hüben, Mein und Dein. Wer hat denn wohl diesen Zaun da oben, zwischen den Schutzhütten am Rittner Horn, in der Weite der Seiser Alm, auf Fanes, im Pfossen- oder Martelltal in die Landschaft gezogen, in eine weite Landschaft, in der nichts wächst außer Gras für Kühe, weit oben, wo niemand mehr auf die Idee kommt, Land zu stehlen? Er steht da, als stünde er immer schon da, grenzt eine Wiese ein, durchschneidet einen Wald, begleitet einen Weg, markiert einen Besitz, verwittert, mit mancher Zahnlücke, aber immer wieder erneuert. Geschlechter haben um diesen Zaun gekämpft, er wurde niedergerissen, wieder errichtet, nach vorne gesetzt, wieder zurückversetzt, mancher ließ Blut dafür, bis für alle Zeiten klar war: Hier ist der Anfang, hier ist das Ende, hier beginnt und endet das Unsere, dort endet und mag beginnen das Eure. Der Zaun blieb, manchmal genügten auch nur Steine, von denen die gedachte Linie, der gedachte Zaun durch den Wald, über Stock und Hügel zum nächsten Stein führte, unüberschreitbar, unüberwindbar, sobald die Abmachung klar war, die mit dem Zaun verbunden war: hier ist der Anfang, hier ist das Ende, hier sind wir, dort seid ihr.

Es gibt kein Leben ohne Zaun, der abschirmt, es gibt kein Leben ohne Zaun, der durchlässt. Die Zelle war schlau, sie verstärkte ihr Außenfestungen und entwickelte Durchlässe, nicht mehr überall sollte das Leben hereinspülen können, denn jedes Mal war sie in ihrer Besonderheit, ihrer Abgesonderheit auch bedroht, sondern nur noch durch die Durchlässe ließ sie herein, spülte aus, der Zaun wurde befestigt an allen Seiten der Zelle, er bekam Schleusen, Tore, Türen. Aus schwammiger Haut wurde feste Haut, aus Quallen wurden Panzerwesen. Je fester der Zaun nach außen war, je undurchdringlicher er das Innen vom Außen schied, desto beweglicher, genauer, passender, ausgeklügelter, geschützter musste das Durchlasssystem sein, das den Austausch nach außen regelte, desto sicherer, stärker, eigener war das Leben innerhalb der Zelle, desto beeinträchtigter, eingeschlossener war der Austausch mit dem Leben draußen. Jetzt brauchte es: einen Eingang für die Nahrung, bewehrt mit Zahnreihen, Ausgänge für das Verdaute, bewehrt mit Schließmuskeln, Eingänge für das Leben, geschützt auch diese, bis es eingelassen werden darf, bis die Membran, die den Eingang schützt, zerrissen werden darf und blutige Laken verkünden – anderes Leben ist eingedrungen in die Frau.

Wir sagen: der vorläufig erste Zaun, denn vorher muss bereits ein Zaun da gewesen sein, dem dieser eine erste nachgebildet war, aber diesen Zaun sehen wir nicht, denken wir nicht, ahnen wir vielleicht. Der Philosoph[1] hat den Zaun besehen, der vor ihm stand, und fand: dass vor dem Zaun die Idee des Zaunes da gewesen sein muss, man könnte von Bauplan sprechen, von einem Prinzip, das Leben schafft. Aber auch der Philosoph hat sich nur beholfen mit einer Idee um zuzugeben, dass es keinen Zugang gibt zur Herkunft des Zaunes. Wir wissen nur: Der Zaun ist da, war immer da, muss immer da gewesen sein. Der Zaun ist der uns sichtbare Teiler des Lebens, der das Leben schafft, indem er es sondert, indem er es bindet. Erst was geschieden ist durch den Zaun und ein Eigenes wurde, kann sich neu binden und ein Wir bilden. Wer den Zaun geschaffen hat, ob er sich selbst geschaffen hat, liegt hinter dem allerletzten Zaun der Menschheit, hinter dem Übergang vom Hier zum Dort, von dem wir nichts wissen. Der allerletzte Zaun der Menschheit sind die Grenzen unserer Sinne, unseres Denkens, unseres Lebens, ist der Tod, aber nicht nur der Tod: ist die Dunkelheit hinter unserer Erkenntnis. Wie jeder Zaun sondert er ab und lässt durch, unser Ahnen, unser Hoffen, unser Glauben. Das Wissen lässt er nicht durch, das Wissen sperrt er aus. Wer weiß, was drüben ist, wenn es ein Drüben gibt, wer kann es wissen, ob es ein Drüben gibt oder dass es keines gibt? Das Leben ist diesseits des Zaunes, ist gestiftet durch die Absonderung vom Jenseits. Seit es Leben gibt, das über sich nachdenken kann, war der Zaun immer da, war der Zaun der Erschaffer des Lebens, nicht der Zaun, den wir herstellen, sondern der Zaun, der herstellt, erschafft, weil er teilt.

Der Philosoph[2] hat einen Krug betrachtet, in Händen gedreht, hat den Finger hineingesteckt, die Außenwand des Kruges abgetastet: Er suchte den Krug. Er fand ihn nicht in der Umgrenzung, nicht im Inhalt des Kruges, nicht am Henkel, nicht am Boden. Ja, wo war denn der Krug des Kruges, der eigentliche Krug? Er fand ihn in dem, was der Krug ist: im Aufschenken, im Schenken. Der Krug ist Krug, wenn er schenkt. Das Schenken ist das Wesen des Kruges. Betrachten wir unseren Zaun, klopfen wir ihn ab, ziehen wir die Latten aus der Erde, knöpfen das Weidegeflecht auf, ja wo ist denn der Zaun? Der Zaun ist das Teilen. Das Teilen, Trennen, Scheiden, Sondern ist ein Schaffen des Lebens. Es bedarf seines Gegenstücks, der anderen Wirkung des Zauns: des Bindens, Verbindens, des Wiederverbindens, was getrennt worden war, der re-ligio. Der Zaun ist Teil: Das Teil weiß um das Ganze, stützt es, schützt es, ist vom Ganzen getrennt und strebt zum Ganzen zurück. Der Zaun bedarf des Durchlasses, um Leben zu stiften und es am Leben zu halten. Erst wenn das Teil auf das Ganze vergisst, dessen Teil es ist, wenn es die Verbindung trennt zum Ganzen, wenn es die Suche aufgibt danach, wenn es nur noch teilen und nicht mehr Teil sein will, verkehrt sich der Sinn des Zauns vom Schaffen des Lebens zum Zerstören des Lebens.

Als sich die angenommene erste Zelle, die eine von Millionen ersten Zellen gewesen sein mag, in zwei Zellen teilte, die sich verbanden, in drei Zellen teilte, die sich neu verbanden, in immer neue Zellen teilte, die ineinander gingen und sich zueinander durchließen, war das Leben auf dem Weg zu dem, was wir sind: ein hochorganisiertes, hochkontrolliertes Zusammensein von Abgesondertem, das sich absondert von seiner Umwelt und doch in ihr steht, lebt, atmet, ausscheidet. Das Teilen schuf das Leben, aber damit sich das Leben entwickeln konnte, musste es sich immer neu verbinden. Um jede Zelle ein Zaun, von jeder Zelle zur anderen ein Durchlass, ein Austausch. Dieses Muster ist gezogen durch unsere Welt, unseren Körper, unser Gehirn, unser Denken: Wir denken, in dem wir scheiden, unterscheiden, um wieder zu binden, verbinden, zusammenzusetzen. Um erkennen zu können, müssen wir uns mit und von dem, was wir betrachten, auseinandersetzen, die Einheit verlassen: uns aus einem in ein anderes setzen, einen Zaun ziehen zwischen uns und dem, was wir betrachten, und hinüberschauen, um es und uns mit ihm wieder zusammenzusetzen. Erkennen heißt in der Sprache der Bibel auch lieben, sich vereinigen: Das Erkennen trennt und vereint. Braucht die Trennung, sehnt sich nach Vereinigung. Das Erkennen teilt und verbindet, zerstört die Verbindung, zeugt sie, zeugt durch sie.

Der Menschenforscher prüfte den Zaun und fand: Der Zaun ist ein Lebensprinzip. Er ist es im Teilen, er ist es im Überwundenwerden, er ist es im Verbinden. Alles Leben ist ein Trennen, ein Abschiednehmen, ein Verlassen, ein Suchen, ein Versuchen, ein Finden und Verbinden. Der Embryo verlässt die schützende Höhle der Mutter, um sich in die Welt zu zwängen; er klammert sich an die Mutter, die er verlassen hat; er trennt sich von der Mutter, um sich als das eigene und sie als das andere zu empfinden, sein erstes Gegenüber, das er erkennen und lieben kann, dazwischen der Zaun des Aus-einem-in-ein-anderes-Setzen. Das Kind verlässt die Mutter, um den Vater zu entdecken, um mit diesem zu brechen, um ihn lieben zu können und um beide lieben zu können. Es verlässt den geschützten Kleinraum der Familie, es verlässt zum zweiten Mal die Höhle, um in die Welt zu kommen und zurückzufinden zur Familie; es wird, wenn es zur Frau, zum Mann wird, noch einmal mit der Familie brechen müssen, um sich selbst zu finden und sich zu verlieren und sich neu zu finden und sich neu zu verlieren; es wird irgendwann das Leben verlassen müssen, um sich neu zu binden mit dem Unaussprechbaren, das hinter dem vorläufig letzten Zaun liegt.[3]

Als der Mensch den ersten Zaun errichtete, war der Zaun schon lange, schon immer da gewesen: war die Hecke gewesen, hinter der sich die Vorfahrenwesen geduckt hatten um Schutz zu finden vor Wind, vor Kälte, vor der sengenden Sonne; war die Baumgrenze gewesen, die Halt bot und gebot; war die Felswand gewesen, die unüberwindlich war, aber die im Rücken zu wissen gut war, denn sie war auch unüberwindlich für den Feind; war das vor den Höhleneingang gespannte Fell gewesen, das Kälte nicht herein, Wärme nicht hinaus ließ und von beidem doch so viel, dass das Feuer nicht ausging. Der Zaun, den der Mensch errichtete, ist die Nachbildung der Hecke, des Waldrandes, der Baumgrenze, die Mauer, die der Mensch aufschichtete, ist das Bild des Felsen, der Höhlenwand. Die Mauer teilt ohne Durchlass, der Zaun teilt durchlässig. Der Zaun ist die sanfte, freundliche Form des Teilens, Scheidens, Sonderns, die Mauer ist seine schroffe Versteinerung. Der Zaun schützt, wenn er anerkannt wird, wenn es genügt, dass ein Zaun da ist, um verständlich zu machen: hier ist mein, hier ist dein; dann lässt er das Leben durch, den Blick durch, den Wind durch, das Rauschen der Blätter durch, lässt Wärme und lässt Kälte durch. Wo der Zaun nicht mehr genügt, tritt die Mauer an seine Stelle: lässt nichts mehr durch außer da, wo es vorgesehen und von Vorsichtsmaßnahmen geschützt ist – an der Zugbrücke, am Türschloss, am Gittertor.

Vor dem Haus war der Zaun. Er ist heute noch vor dem Haus. Bevor ein Haus entsteht, wird ein Zaun gezogen, ein Bauzaun. Der Zaun schafft die Zone. Ein Fleck Land, der vorher keine Beachtung fand im Ganzen der Wiese, wird größer, indem er abgeteilt wird, wird etwas besonderes, lässt ein Eigenes erahnen. Der Zaun grenzt ein Stück Land ab von der Unbegrenztheit der Landschaft, sondert es ab, macht es zu etwas Besonderem, zu unserem Stück Land, auf dem unser Haus entstehen soll. Zaun und Zone sind eins, der Zaun ist nicht nur die Abgrenzung der Zone, sondern schafft sie: der Bauzaun die Bauzone, der Absperrzaun die Sperrzone, der Sicherheitszaun die Sicherheitszone, der Todeszaun die Todeszone. Der verschärfte Zaun ist die Mauer mit Stacheldrahtzaun und Selbstschussanlage, die jeden erreicht, der hinüber will. Auch dieser Zaun schafft ein besonderes, abgesondertes Leben. So wie der Tod als Begrenzung des Lebens allem, was innerhalb des Lebens stattfindet, eine erhöhte Dichte verleiht, hebt der Zaun alles, was innerhalb der Umzäunung ist, über das Gewöhnliche der Flachheit hinaus, gibt ihm einen abgesonderten, besonderen, erhöhten Wert. Der Todeszaun begrenzt das Leben, und was uns beschäftigt, ist: gibt es einen Durchlass?

Der deutsche Zaun und die englische town sind aus der selben Sprachwurzel gewachsen: Der Zaun begrenzte nicht die erste Stadt, er schuf die Stadt, war die Stadt. Eine ähnliche Verwandtschaft des Zauns besteht zum niederländischen tuin für Garten. Der Zaun grenzt den Garten nicht nur ab und schafft ihn dadurch, er ist der Garten. Wir haben das altsäschsische gard für Zaun, das neuenglische garden für Garten. Wir haben das altenglische geard für Umfriedung, das neuenglische yard für die Maße des Feldes. Umfriedung: Der Zaun schafft Friede und Friedhof, den Raum für das geschützte Leben, den Raum für den Tod. In alten nordischen Sprachen heißt Gerdhr Zaun und Schutz. Hag bedeutete Zaun, war Hege, war Gehege. Im Hebräischen sagt man nicht, dass jemand aus dem Häuschen geraten ist, sondern: Er ist aus dem Zaun geraten.[4] Der Zaun schuf das Haus, war das Haus, die Wohnung. Aus dem Zaun geraten ist unsere Welt.

Wohnen und Bauen waren im Germanischen ein einziges Wort, buan, das zugleich „Sein“ bedeutete: ich bin. Wohnen und Bauen bedeutete Dasein, einen Platz haben, zu dem der Philosoph[5] ein drittes fand: wunian, das soviel hieß wie im Frieden sein mit dem Dasein, mit dem Wohnen, es bedeutete: schonen. Das schonende Dasein und Bauen war das Wohnen, das schonende Dasein und Wohnen das Bauen der frühen Menschen. Wir müssen noch etwas unterscheiden zwischen Zaun und Hütte: der Zaun ist öffentlich, grenzt ab, was sonst allgemein zugänglich wäre, regelt die Verbindung; die Hütte schützt das Innerste, Intimste, Private. Der Zaun war die schonende Verbauung der Allmende, ein sanfter Schutz, eine durchlässige Grenze. Wir wissen, was aus dem schonenden und wohnenden Bauen, dem Dasein im Frieden geworden ist: Im Zaun, den der Mensch nachgebildet hat aus seinen inneren Zäunen, steckt sein Sinn und sein Wahn, der Sinn des Schaffen durch Sondern und Verbinden, der Wahn des Absonderns und Abbindens. Von Wunain zum Wahn, vom schonenden, daseienden Wohnsinn zum zerstörenden, ruhelosen Wahnsinn, beides treibt den Menschen, das eine lässt ihn Schutz suchen und schonen, was ihn schützen soll, das andere begnügt sich nicht damit, will mehr, will weiter.

Die eine runde Erde, ein einziger Zaun: jener nur, von dem wir nichts wissen, von dem wir nur ahnen, dass er da sein muss, damit es die anderen Zäune geben kann als seine Bilder; jener, der hinter dem Zaun liegt, der unserem Auge, unserem Ohr, unserem Fühlen, unserem Denken gezogen ist. Der Philosoph[6] schritt ab die Zäune. Der Raum Erde: Die Zäune waren gesetzt durch die Bedingungen des Lebens – jedes Tier in seinem Lebensraum, die Grenzen unsichtbar gezogen durch Nahrungsvorkommnisse, Klima, Element. Es haben wohl schon die Tiere angefangen, ihre eigenen Zäune zu ziehen, Urinmarkierungen durch den Urwald, durch die Steppe, die besagten: Hier ist mein, dort mag das deine beginnen. Die Zäune, die Bedingungen des Lebens, waren unverrückbar, überwindbar nur durch Veränderung des Lebens selbst: Die Vorfahrenwesen, die das Wasser verließen, ließen ihre Bedingungen hinter sich, indem sie sich änderten, indem sie eine nicht mehr genügende Angepasstheit verließen und neue Anpassung anstrebten. Jedes Fortschreiten ist das Überschreiten eines Zauns, jedes Fortreißen ein Niederreißen des Zauns: Evolution ist ein Wachsen über den Zaun hinaus, Revolution ein Niederreißen. Der Zaun, haben wir gefunden, ist ein Naturgesetz, das Überschreiten des Zaunes auch.

Wären unsere Vorfahrenwesen hinter jenem ersten Zaun geblieben, der ihnen eine Grenze setzte, es gäbe den Menschen nicht; hätten sie sich mit den Zäunen begnügt, die das Land bot, die Hecken, die Waldränder, die Baumgrenzen, es hätte nicht jenes Fortschreiten gegeben, das zum Wohnsinn und von da zum Wahnsinn führt. Der Sinn für sein Überleben treibt den Menschen seine Zäune zu befestigen, abzudichten: immer mehr. So geht es hinan vom Zaun zur Mauer zur Mauer mit Zaun zur Mauer mit Zaun und Stacheldraht zur Mauer mit Zaun und Stacheldraht und Selbstschussanlage, so geht es hinan vom Sinn zum Wohnsinn zum Wahnsinn, aus dem am Ende kein Durchlass mehr führt außer dem Niederreißen der Mauer.

Die Geschichte der Menschheit ist ein Errichten und Niederreißen von Zäunen. Es treibt den Menschen: aus dem Paradies hinaus, aus jeder für ihn passenden, ihn aber einengenden Befindlichkeit hinaus. Abel war ein Hirte, der seine Herden von Land zu Land trieb, das Vieh brauchte noch keine Zäune, er war nicht mehr im Paradies, aber er war ihm noch nahe, stand am Zaun des Paradies, suchte den Weg zurück, die Zurückbindung, die religio – Gott gefiel sein Opfer. Kain wollte mehr, wurde Ackerbauer, zog Furchen, grenzte das Land ab, sein Land, ließ hinter sich das Paradies, wandte sich der Erde zu, dem Leben, suchte den Weg nach vorne, das progredo, den Fortschritt – Gott missfiel sein Opfer. Wir wissen, wie es ausging: Abel starb auf der Weide, Kain ist nach Adam der Stammvater der Menschheit. Adam war ein willenlos Versuchter, Kain war ein willkürlich Suchender – er wollte, forderte, nahm. Er wollte erkennen, forderte Erkennen, nahm sich das Erkennen, das Adam nur heimlich zugesteckt worden war von Eva und Eva von der Schlange. Die Erkenntnis von Gut und Böse war versagt im Paradies. Erkennen ist, haben wir gefunden, ein Absondern vom Erkannten, es ist die Trennung vom Einssein und die Vereinigung mit dem Geliebten, ist die Zeugung eines Gemeinsamen aus zwei Getrennten. Ist  Scheiden und Verbinden. Ist Zaun.

Der Zaun war, ist durchlässig für Luft, Blick und Schall; er war, ist eine sanfte Begrenzung und erfährt Verschärfungen: Stacheldrahtzaun, Selbstschussanlagen am Todeszaun, immer höheres Spannen der Zäune. Die Zäune sind eine Abmachung zwischen den Menschen: Hier ist Mein, hier ist Dein. Hielten sich alle daran, genügten Grenzsteine zur Erinnerung: niedere, leicht gebaute Zäune, die nicht am Übertreten hindern, sondern nur die Grenze in Erinnerung hielten. Vor dem Gesetz, das Mein und Dein regelte, war der Zaun: Er war das erste Gesetz für das Leben zwischen den Menschen. Die Bauern oben auf den Bergen mussten nicht im Gesetzbuch lesen, was wem gehörte, was sein darf und was nicht sein darf; sie lasen in ihrer Landschaft; lasen in den Zäunen. Dieses Lesen haben wir verlernt. Wir haben ein anderes Lesen gelernt: Wir gehen durch die Stadt, sehen eine blaue Linie am Boden und lesen: Das ist ein Parkplatz auf Zeit. Wir sehen einen weißen Strich und lesen: Parkplatz für Einheimische. Wir sehen einen gelben Strich und lesen: Parkplatz für Sondergenehmigungen oder Menschen mit Behinderung. Dieses Lesen ist ein Auflesen. Wir lesen auf aus der Stadtlandschaft, im Hin- und Herblicken zwischen Strichen und Autos, im Erinnern der Gewohnheiten, im Blick zwischen Parkuhr, dem Blau der Linie, dem Stadtpolizisten mit dem Strafzettel in der Hand. Wir haben dieses Lesen abgetrennt vom Auflesen, in Buchstaben gerahmt: Auch dieses Lesen war im Anfang ein Sammeln in der Landschaft, ein Auflesen der Runensteine, ein Verbinden. Das lateinische Lex ist verwandt mit legare, binden, lesen, und mit Lexis, dem Wort für das Wort: Der Zaun ist Teilung, ist Verbindung, ist Gesetz, ist Wort.

Der Philosoph besah diese seltsamen Zeichen, drehte und wendete sie und wollte ergründen, woher sie gekommen waren. Der Raum des Territoriums: der Zaun, den Kain gezogen hatte, das geteilte Land.[7] Das Dein und das Mein. Das Zusammenfinden von Völkern – hier ist unser Land, dort ist euer Land. Das Ziehen von Grenzen. Die eine Erde war nicht mehr eine, war geteilt: viele Teile, die vergaßen, dass sie Teil waren, die sich an die Stelle des Ganzen setzten. Volk gegen Volk. Stadt gegen Stadt. Der Zaun genügte nicht mehr, die Stadtmauer ist seine Versteinerung. Die erste Stadt war jene Stadt, von der wir erzählt haben, von der wir erzählen, weil sie die Geschichte des Zauns erzählt, der zur Mauer wurde und wieder zum Zaun wird, der eine Mauer ist: die Geschichte der Menschheit, die Geschichte Kains. Der Zaun, der zur Mauer wird, der teilt und vergisst, dass er ein Teil ist, dieser Zaun ist nicht der Erzeuger des Lebens, sondern sein Zerstörer. Der Zaun ist Leben. Der Zaun ist Krieg. Es geht hin und her über den Zaun. Er wird Mauer, wird Zaun, wird Mauer, wird Zaun: der Tod; das Leben; der Tod; das Leben, hoffen wir.

Wir sagen „definieren“, wenn wir einen Begriff fassen wollen. Definieren heißt eine Grenze ziehen um den einen Gedanken, ihn abgrenzen von der Unendlichkeit des Ahnens, der wort- und bildlosen Vorstellung, der mystischen Verflüchtigung. Das Denken braucht den Zaun. Es braucht das Scheiden, das Unterscheiden. Es braucht Worte, die Abhebung von Lauten aus dem großen Rauschen des Weltalls, das Zuspitzen zu Worten, das Spitzen der Gedanken mit der Zunge. Wie in Wellen ging das Wort hin, ging das Wort her, es festzuhalten, zu erinnern bedurfte des Reims, aufgesagt und wieder aufgesagt, gesungen und wieder gesungen. Die Membrane waren dünn zwischen den Worten, das Wort war noch frei. Es hallte wieder als Echo des Weltrauschens, das ein Echo der Zeit vor der Zeit und vor dem Zaun ist.

Der Philosoph[8] betrachtet den Mensch und die Zeit: Er sieht den Mensch in der Höhle, dem Raum anvertraut, dem einfachen. Er sieht Hieroglyphen in Stein gehauen: Die Länder sind klein, die Herrschaften hart und dauerhaft. Er sieht das Papyrus, das Wort wird leichter, flüchtiger, breitete sich aus und erweiterte die Räume. Er sieht die Schrift: Jeder Buchstabe ist eine Begrenzung, die Absonderung, Teilung eines Lautes, der durch andere Buchstaben mit anderen Lauten verbunden wird. So schafft das Teilen und Verbinden das Mitteilen. Der Philosoph sieht das Buch: die Ausbreitung des Denkens, einer gedruckten, alles normierenden Schrift. Die Druckerpresse entstand aus der Weinpresse, schuf Ernsthaftigkeit aus Unbeschwertheit. Er sah fliehende, geisterhafte Bilder. Er wusste, eine neue Zeit bricht an. Der Evangelist[9] besah die Erde, dachte zurück von Zaun zu Zaun und befand: Im Anfang war der Zaun, und der Zaun ist Mauer geworden. Im Anfang war das Wort. Das Wort ist Schrift geworden.

Betrachten wir die chinesische Schrift: Sie ist dem Leben abgeschaut, den Dingen ähnlich, die sie benennt, ein weitgezogener Zaun –  das verstreute Reisig im weiten Wald, ungeordnet, unendlich viel, nicht einmal die Gelehrten kennen alle Zeichen. Betrachten wir die ersten europäischen Schriften: zwischen 24 und 26 Stäbchen, aus denen sich der ganze Wald zusammenstellen lässt. Das erlaubt kein sinnliches Suchen im Reisig des Waldes, es verlangt nach geordnetem Zusammenstellen des Wenigen, um das Viele daraus zu bauen, verlangt nach Ordnung, Genauigkeit, Logik, Strenge, Abstraktion. Die Abstraktion ist der Zaun zwischen der Welt des Mythos und der Rationalität, die in Griechenland beginnt, nicht mehr der staunenden Anbetung, sondern der fragenden Bildung. Abstraktion: Wir stellen uns der Welt entgegen und ziehen ab den Sinn von den Gegenständen, ziehen den Zaun zwischen uns und der Welt. Betrachten wir die Schrift der Phönizier: Sie war die erste Schrift im Mittelmeerraum und trug ihre Schiffe hinaus auf alle Meere. Der im Denken festgepflockte Zaun der Sprache gab den Halt, den Zaun des Wassers zu überqueren.

Die Zeichen, mit denen wir unser Denken festhalten, eingrenzen, definieren, gaben ihm Festigkeit, um den Preis, den jede stärkere Außenbefestigung hat: Die Kontrolle an den Aus- und Eingängen muss genau geregelt werden. Mit der Sprache kam Ordnung und Einheitlichkeit in das Denken. Ordnung heißt – Teilen von Ich und Um, sagen wir Umwelt: Verlust der Einheit mit der Umwelt, Gewinn des Ichs, das seine Worte nicht mehr vergisst, sondern speichert in Zeichen, sie festfriert auf das, was einmal gesagt war und nicht mehr geändert werden soll in alle Zeiten. Das Gesetz der Zäune war ein bewegliches Gesetz. Das Gesetz der Sprache wurde in Stein gehauen: für die Ewigkeit. Stämme haben, bevor der Weg zum Kampf beschritten wurde, ihre Stammbäume abgeändert, um Kriege zu vermeiden, das ließ sich aushandeln im gesprochenen Wort, in der Gestik des Friedens. Das geschriebene Wort legt fest für alle Zeiten, so war es, so muss es sein, wir führen Krieg. Zäune ließen sich noch versetzen, Markierungssteine verstellen. Die Schrift, die Urkunde, eingelegt in den Grundstein: Sie beansprucht Gültigkeit für alle Zeiten, Unabänderlichkeit. Das Gesetz der Zäune war vielfältig – hier so, anderswo anders, Vereinbarungen von Menschen, mit dem Zaun in die Landschaft geschrieben, mit der Hand besiegelt, jeder in seiner Sprache. Der Zaun der Sprache verlangte: Alle in einer Sprache, wer sie spricht, gehört dazu, wer sie nicht spricht, gehört nicht dazu. So wie wir lesen, lesen wir auch aus. Die Nomaden hatten die Zäune genutzt, die ihnen die Natur bot, Kain zog den Zaun um seine Äcker, die Völker bauten die Stadtmauer. Die Schrift schuf den Nationalstaat, schuf die Grenze: den für alle verbindlichen Zaun, den Zaun, der für alle Gesetz ist, die dazugehören wollen, und der alle ausschließt, die nicht dazu gehören.

In seiner ursprünglichsten Form ist das Gesetz eine Information darüber, was gut ist und was nicht gut ist. Zäune oben am Berg, aber auch an Baustellen, an Gefahrenstellen, an Böschungen sind keine eigentliche Absperrung, sie können das Überschreiten nicht verhindern; sie raten lediglich davon ab, teilen mit, dass hier etwas anderes beginnt, ein anderes Grundstück oder eine Baustelle oder eine Gefahr. Der Zaun ist Teilung. Er teilt das Land. Er ist Zuteilung. Er teilt es zu. Er ist Mitteilung, ist Kommunikation, ist das verbindende Teilen, von dem wir wissen: Er schafft das Leben; ist der Teil, der um das Ganze weiß. Indem er verbindet, scheidet er, indem er mitteilt, was hinter dem Zaun ist, scheidet er und verbindet er. Er hindert nicht am Überschreiten, aber er weist darauf hin, was dahinter kommt: das Andere, die Gefahr, der Tod. Auf der Aldeiner Brücke, hoch über einer engen Gebirgsschlucht, wurde auf das Geländer ein Zaun montiert, um Menschen davon abzuhalten, sich hinunterzustürzen. Der Zaun konnte Suizide nicht verhindern, aber er teilte mit: Hier endet das Leben. Jede Norm ist ein Zaun: Sie kann nicht verhindern, dass wir sie übertreten, aber sie weist uns daraufhin, dass wir übertreten – hinübertreten.

Der versteinerte Zaun, der Zaun mit Stacheldraht, der Zaun mit Selbstschussanlage will mehr: Er will, was ein Zaun gar nicht kann – er will zur Einhaltung der Grenze nötigen, setzt nicht mehr darauf, dass der Mensch für sich bestimmt, was gut und was schlecht ist, sondern zwingt ihn zum vermeintlichen, oft irrigen Guten. Dieser bewehrte, bewaffnete Zaun tötet, wer ihn überschreitet: Er schützt nicht vor der Gefahr, vor dem Tod; er ist der Tod. Er warnt nicht vor dem Übergriff auf fremdes Eigentum, vor dem Diebstahl, sondern ist der Dieb, der das Land stiehlt, der die Freiheit stiehlt, der das Leben stiehlt. Das ist der Zaun, der seinen Sinn verkehrt, vom Wunian zum Wahn. Die Gefängnismauer, das Zellengitter ist die zeitversetzte Wirkung der Norm: Die Übertretung war möglich, aber sie zieht Strafe nach sich, die nicht mehr überwindbar ist. Die Gefängnismauer ist der verschärfte Zaun des geschriebenen Gesetzes.

Was scheidet das Gute vom Bösen derart, dass wir das eine vom anderen glauben absperren zu können? Der Zaun? Nein, der Zaun lässt durch, prüft zwar, filtert, schneidet aber nicht entzwei, weiß ums Ganze – der ursprüngliche Zaun. Es ist der verfestigte, der verdrahtete, der versteinerte Zaun, der in unserem Denken die Grenze zieht: Das ist gut und nur gut, das ist böse und nur böse. Der Philosoph sagt: Wir denken in zwei Hälften, stellen die eine gegen die andere, lassen die Versuchung der einen gegen die andere nicht zu. Der Philosoph sagt: Der Zaun ist eine Konstruktion. Er teilt, weil wir teilen wollen, um uns leichter zurechtzufinden im Gewirr von Gut und Böse. Aber Gut und Böse sind gemengt: Im vermeintlich Guten steckt Böses oder vermeintlich Böses, damit es überhaupt gut sein kann; im vermeintlich Bösen steckt Gutes oder vermeintlich Gutes, damit es überhaupt sein kann. Je weniger wir vom Bösen wissen, desto rein böser ist es, desto mehr befestigen wir den Zaun, bewachen ihn, bewehren ihn mit Stacheldraht, bestellen ihn mit Todesschussanlagen. Je mehr wir vom Guten zu wissen glauben, desto undurchdringlicher ziehen wir unsere Zäune um das Gute herum, desto blinder werden wir, desto unempfindlicher für das, was außerhalb unseres vermeintlich Guten ist, für das Böse, das innerhalb unseres vermeintlich Guten steckt. Der Zaun im Kopf ist die Blendung, dass wir auf der richtigen Seite stehen, dass es eigentlich überhaupt nur unsere Seite gibt und ein böses Draußen. Deshalb bauen wir Mauern.

Der Prophet betrachtet die Welt und sieht die Mauer: Wo kommt die Mauer her? Wir glauben jetzt zu wissen: Sie ist ein versteinerter Zaun. Wir haben von der Stadt erzählt, in der eine Mauer fiel und jetzt der Zaun wiederkehrt. Es war die erste Stadtmauer der erinnerten Menschheitsgeschichte, 9000 Jahre vor Christus, die Mauer um Jericho, genannt die Palmenstadt. Sie schloss aus die Israeliten, die in die Stadt wollten, ließ nicht durch. Sieben Mal, so oft wie Gott Tage gebraucht hat um die Welt zu schaffen, so viel wie der Leuchter Arme hat, zogen die Ausgeschlossenen mit ihrer Bundeslade, in der sie Gott mit sich trugen, um die Mauer und erhoben ihr Kriegsgeschrei – die für uneinnehmbar gehaltene Mauer brach allein unter dem Lärm in sich zusammen.[10]

Was soll diese Geschichte? Warum hielt die Mauer weniger, als ein Zaun gehalten hätte? Die Mauer war eine Übertreibung des Zauns gewesen, brach ein, als ihr Sinn übertrieben und durch Übertreibung in ihr Gegenteil verkehrt wurde, sie schützte nicht mehr, sondern sperrte aus, bis sie daran zugrunde ging. Was war die Bundeslade? Sie war ein verkleinerter, mittragbarer Tempel, das Haus des Herrn. Das lateinische templum heißt Bezirk: Das Wort stammt, wie die Tempel, die es benennt, aus dem Griechischen und steht für „schneiden“, „abteilen“. Der Tempel teilte ab, schnitt ab: den Gott vom Menschen, gab ihm eine Behausung, schloss ihn ein. Das Hinüberschauen in das Unfassbare, das Suchen nach Jenseits, nach Göttern, nach Gott, das Zurückschauen über den Zaun des Paradieses, das wir verlassen haben, ist eine Eigenschaft des Menschen: Und kaum glaubt er, er hat den Gott, dem er entflohen ist, der ihn verstoßen hat, dem er entwachsen ist, gefunden, gefasst, gedacht, gesehen, geträumt, schon sperrt er ihn ein, um seiner sicher zu sein. Auch die ersten griechischen Tempel waren wie die Bundeslade der Hebräer: Miniaturtempel, in denen der Kultgegenstand ruhte. Mit dem Wachsen des Kultgegenstandes wuchsen die Tempel, wuchsen die Kirchen. Je sicherer wir unseren Gott zu haben glauben, desto mehr übertreiben wir mit dem Wissen um unseren Gott, blasen wir uns selbst zu Gott auf, reden, handeln, fordern, kriegen im Namen Gottes. In Babylon wuchs der Turm gegen Himmel: Die Größe, die Übertreibung des Menschen, der Gott zu haben glaubt und sich mit ihm verwechselt, stürzt an sich selber ein.

Jericho ist die Geschichte vom Zaun, der übertrieben wurde. Auch diese Geschichte war immer da, ist immer da, kehrt wieder: die chinesische Mauer, der eiserne Vorhang zwischen Ost und West, der Zaun, der 2004 an der Westbank zwischen Israel und Palästina gezogen wurde, ungefähr da, wo Jericho war.[11] Der Zaun wird zur Mauer, ordnet nicht mehr die Landschaft, teilt nicht mehr mit, sondern riegelt ab, trennt scharf, tötet das Leben, das hinüber und herüber will. Die Selbstschussanlagen der ehemaligen DDR waren die Automatisierung dessen, was es schon in Auschwitz gab: ein Stacheldrahtzaun, davor ein Kiesstreifen. Wer den Kiesstreifen betrat, wurde von den Wachtürmen herab erschossen. Der Zaun selbst wäre nicht unüberwindbar hoch gewesen, aber er war tödlich durch den Schutz, der für den Zaun bestellt worden war oben auf den Türmen. Nachts, wenn die Wachposten das Ziel verfehlen hätten können, stand der Zaun unter Strom. Der Zaun schützte nicht vor Eindringlingen, sondern sperrte die Einsitzenden ein. Auch die Mauer, die 1961 zwischen Ost- und Westdeutschland errichtet wurde, sollte nicht die DDR schützen, sondern die DDR-Bürger daran hindern, in den Westen zu fliehen: Der DDR liefen die Menschen davon, die Mauer hielt sie zurück. Durch die Absonderung vom Westen wurde die DDR zu etwas Eigenem, Besonderem, erhielt ihr Selbstbewusstsein, litt daran, ging daran zugrunde. Die Erbauer des Zauns hatten auf die lebensstiftende Eigenschaft des Zauns vergessen, das Verbinden. Nur wenn der Zaun durchlässt, ist das durch den Zaun geschaffene Leben überlebensfähig.

Der Zaun an der Westbank ist das nach außen gelagerte, sichtbare, Mauer gewordene Schutzbedürfnis Israels, die Mauer von Jericho, die sie eingerissen haben, errichten sie wider den Feind. Der Zaun soll nicht Israeliten einsperren, sondern – vordergründig – die palästinensischen Selbstmordattentäter aussperren, sie abhalten davon, Tod und Schrecken nach Israel zu bringen. Der Zaun soll den Tod draußen halten, indem er das Leben einsperrt. Die Fürsprecher des Zauns, der eine Mauer ist, halten dafür: Hubschrauber, mit denen auf vermeintliche Attentäter gefeuert wird, töten, der Zaun tötet nicht. Der Zaun schützt. Die Widersprecher halten dagegen: Der Zaun trennt Menschen von Menschen, trennt palästinensische Kranke von israelitischen Ärzten, trennt palästinensische Bauern von israelitischen Märkten, trennt Palästina von den Wasserquellen jenseits des Zauns. Der Zaun tötet doch. Er tötet Palästina, indem er es einschnürt. Er hält vielleicht die Selbstmordattentäter auf, lässt sie zurückprallen am Zaun, wirft den Tod zurück, sperrt ihn dort ein, wo das Sterben die einzige Hoffnung auf das Leben ist. Der Hubschrauber, der todbringende, ist ein Accessoire des Zauns, der eine Mauer ist: Er ist der Schütze auf den Todestürmen von Auschwitz, eine fliegende Selbstschussanlage über der Mauer von Berlin.

Die Mauer ist da, bevor sie da ist: Ost und West waren geteilt, bevor der Osten glaubte, sich durch einen Zaun absondern zu müssen – der ideologische Zaun, der keine Mitteilung von hüben nach drüben mehr zuließ, der eine Verschärfung des Zauns ist, schuf die Mauer zwischen Ost und West. Der eiserne Vorhang war da, bevor er da war, war unsichtbar angelegt in der Unversöhnlichkeit von Ideologie und Ideologie: In der Teilung des Guten vom Bösen, ohne Durchlass. Der eine Zaun: das Proletariat trennen von der Bourgeoisie, um das Proletariat zu stärken, damit es die Bourgeoisie umrennen kann, die Masse der Nichtshabenden absondern von den Wenigen der Habenden, damit diese gestürzt werden können, das Gesellschaftliche, Solidarische, Gute, Gebende im Menschen absondern vom Individualistischen, Egoistischen, Bösen, Nehmenden, um dieses umzuformen – oder auszumerzen. Den Osten abgrenzen, damit das Böse ihm die Menschen nicht stiehlt, damit er stark werden und die Welt verbessern kann. Der andere Zaun: zwischen den Habenden und den Habenichtsen, zwischen den Herrschern und den Beherrschten, zwischen dem Recht, das billig, und dem Recht, das käuflich ist.

Die Brennergrenze zwischen Italien und Österreich war gezogen worden im Vollständigkeitsbedürfnis des italienischen Nationalstaates, der einen Krieg wagte für diesen Zaun: Der Zaun der Schrift musste übereinstimmen mit dem Zaun des nationalen Stolzes; als die Grenze gezogen war, war die Unterschiedlichkeit der Sprachen noch da, denn die Schrift ist das befestigte Wort, ist der befestigte Zaun. Mit Massenansiedlung, kultureller Umerziehung, Sprachverbot wurde versucht, auch diese Grenze neu zu ziehen, sie auf die Reihe der Staatsgrenze zu bringen. Aber Zäune haben ein Eigenleben: Die Staatsgrenze ließ sich verschieben, die Sprachgrenze nicht. Sie war tiefer eingegraben in das Leben der Menschen.

Die Sprache, sagen wir, ist Mitteilung, ist Teilung, ist Zaun: sie verbindet und teilt. Aus Lesen kann Auslesen werden: wer diesseits des Zaunes steht, wer jenseits steht, wer hinüberdarf, wer nicht hinüberdarf, wer hinüberwill, wer nicht hinüberwill. Wenn die Sprache nur noch teilt und nicht mehr mitteilt, den Bezirk abgrenzt und aufs Ganze vergisst, wird sie zur Mauer, die kein Verstehen zulässt, die abriegelt von und nach allen Seiten, immer höher hinauf, damit niemand hineinkommt in diese Sprache, niemand herauskommt aus dieser Sprache. Der zum Himmel wachsende Zaun ist der Turm von Babylon. Auch Sprachen stürzen ein, wenn sie nicht mehr verbinden, nur noch teilen: Dann wird Sprache zum Selbstzweck, ist sich Selbst das Ziel, will Gott werden. Oder besser: So sehr wird die Sprache vom verbindenden Zaun zur durchtrennenden Mauer, dass diesseits das Eigene eingeschnürt wird in sein Selbstsein, das steigt und steigt und steigt. Wir sagen: Sprache schafft Verbindung und Identität. Abgeriegelte Sprache schafft Isolation und Hybris – Rapunzels Gefängnis, Babylons Protzbau. Frau A. steht am Zaun und schaut darüber hinaus: Wird jemand vorbeikommen, wird von da drüben jemand mit ihr reden mögen, redet überhaupt jemand mit einem Menschen, der aus diesem oder jenem Grund nicht dazugehört, des Alters, der Sprache, des sozialen Standes wegen? Der Jargon war eine Sprache, die nur die Eingeweihten verstehen sollten – Verschwörergruppen in totalitären Systemen schützten sich durch eine Sprache, die dem Staat fremd war; er wurde zur Waffe der Bettler, die in unverständlichen Zeichen auf die Häuser kritzelten, wo gut und wo nicht gut betteln war, wo man stehlen musste; er wurde zur Sprache der Banden, die ihre Pläne ausheckten; er wurde zur Sprache der Jugend, die sich von den Erwachsenen abgrenzt und sich selber sucht. Wie der Zaun: Das Abtrennen schafft das Eigene, gibt ihm einen Wert, hebt es ab in das Abgesonderte, Besondere. Sprache wird zum Gefängnis, wenn sie keinen Durchlass mehr gewährt. Sprache teilt, weil hinter der Sprache die Zäune des Lebens aufgestellt sind; weil sie aus diesen Zäunen entstanden ist; weil das Lesen ein Auflesen ist und ein Auslesen werden kann.

Zaun, Mauer, Sprache, Schrift – es hat kein Ende mit den Zäunen. Da ist jener Zaun, der die Warenströme der einen zurückhält und jene der anderen durchlässt, der Handelszäune, Handelsräume schafft. Amerika, die Kolonien, die Teilung der Welt durch ihre Verbindung oder die Verbindung der Welt durch geregelte Teilung: Nord-Süd, Ost-West, Arm-Reich, Abendland und Morgenland, lange ein reger Austausch, bis die Zäune Mauern wurden, bis der Austausch kein Nehmen und Geben mehr war, sondern ein Nehmen und Nehmen. Neue Räume entstanden, die großen Kontinente, um die jetzt, da die Zäune im Inneren ihren Wahnsinn verlieren und wieder Wohnsinn freigeben, die Außenzäune gezogen werden. Wo der Zaun nicht auf seine Eigenschaft, das Mitteilen, vergisst, ist er nicht nur Teilen, sondern Durchlassen, vom Einen zum Anderen.

Der Zaun ist beides, Teilen und Mitteilen: Die Autobahn zerschneidet das Land, verbindet Länder. Eine Pipeline teilte den Sudan: sie führt von den Ölfeldern, die im Süden des Landes liegen, ausschließlich nach Norden. Als 2005 vorerst Frieden zwischen Süd und Nord gelang, wurde eine neue Linie durch das Land gezogen: die nach Süden führende Bahnlinie als Ausgleich für die nach Norden führende Pipeline. Der 6.350 Kilometer lange Mauerwall an den Grenzen Chinas, die vermutlich nicht einmal die ganze Mauer waren, dienten der Verteidigung der Sicherheit und des Handels: Sie schützte die Seidenstraße. Verbindung und Teilung. Die Eisenbahn durchtrennte die Weidegründe der Indianer Amerikas, teilte das Land, teilte das Leben. Die Schienenstränge waren ein Zaun, dem andere Zäune folgten: Wer das Land hat und wer nicht, wer leben darf und wer nicht. Das Reservat: eine Mauer gezogen aus Ausgrenzung, aus Abgrenzung, dahinter vegetiert ein Rest, der sonst vielleicht ganz verschwinden würde.

Immer aufs Neue entdichtet und verdichtet sich der Zaun: Europa ist zaunfrei, jubeln wird. Die Zäune und ihre Zollposten sind verschwunden aus dem Blickfeld, freie Fahrt wird Vorschuss auf Freiheit gewährt, aber wir merken  - uns fehlt der Zaun. Als müssten wir den Verlust der Abgrenzung nach innen ausgleichen, ziehen wir einen Zaun außen herum, sichern ab den Kontinent mit einem Zaun, der das Gesetz von Schengen ist. Es wird von seiner Durchlässigkeit, von seiner Fähigkeit durchzulassen abhängen, ob er standhält, nachgibt oder zur Mauer und überrannt wird – berstend unter dem Kriegsgeschrei der Ausgeschlossenen. Siebenmal wird um Europa, wenn es denn die Mauer will, herumgezogen werden, dann wird es fallen: wie Jericho gefallen ist, wie der Turm von Babel eingestürzt ist, wie die Mauern der Burgen mit ihren Zugbrücken zerfallen sind. Es lässt sich nicht leben hinter dem Zaun, wenn die Ausgeschlossenen zu viele sind und ihre Not zu groß wird: dann erstickt auch das Leben hinter dem Zaun. Dann genügt ein Geschrei und aller Stolz knickt ein.

Der globale Zaun hebt die Zäune auf, wo sie überflüssig geworden sind; er erhöht die Mauern, wo neue Konfliktlinien drohen: im Herstellen und im Herstellen lassen. Ja, was ist das, was herstellt und hergestellt wird, fragte der Philosoph? Er fand, dass das, was herstellt, das Gestell ist, das als Kraftwerk den Flusslauf bestellt, als Reisegruppe die Landschaft bestellt, als Atomkraftwerk die Zukunft bestellt – und schnell wird ein Verstellen daraus.[12] Die Zäune der Konzerne zäunen ab jene die für Hungerlöhne arbeiten von jenen, die ihre Waren, Strände, Frauen und Kinder kaufen, sie zäunen Menschen von Menschen ab, Habenichtse von Habenden. Der Zaun ist das erste Gestell. Er bestellt das Feld, er bestellt die Landschaft. Der Zaun strukturiert die Landschaft, strukturiert die Welt. Struere ist das lateinische Wort für Bauen: das schonende Bauen, das schonende Wohnen, das Dasein in geordnetem Frieden. Wir könnten sagen: Der Zaun ist ein Hergestelltes, in die Landschaft Gestelltes, Verstellendes. Wir können sagen: Der Zaun ist ein Kon-strukt, eine Kon-struktion, ein Zusammengebautes: Das verbindende Bauen. Wo darauf vergessen wird auf das schonende und verbindende Bauen, bleibt es beim Teilen, unterbleibt das Mitteilen, beginnt die Übertreibung des Zauns, wird die Konstruktion zur Destruktion: vom Zusammenbauen zum Zerstören, von Wunian zum Wahn. Wo der Zaun übertrieben wird, verstellt das Gestell die Landschaft, die Zukunft, das Leben. So ist der Mensch: er begnügt sich nicht mit dem Zaun, der Freiheit lässt, er zieht ihn enger, bis er ihm zu eng wird. Er zieht ihn höher, bis er zu hoch wird. Er befestigt ihn, bis er versteinert. Er schützt sich, bis er am Schutz zugrunde geht: bis der Zaun zu töten beginnt. Der Stacheldraht wurde erfunden zum Einzäunen der Rinderweiden im amerikanischen Westen, der davor offenes Weideland war, auf dem die Indianer die Büffelherden begleiteten und die Kuhhirten ihre Herden trieben: Er machte die Cowboys arbeitslos und half, die Indianer aus ihren Gebieten zu vertreiben. Im amerikanischen Freilandgefängnis von Guantanamano ist der Stacheldraht ein Käfig für Menschen.

Zäune brauchen keine Ausdehnung: In der Parabel vom Kaukasischen Kreidekreis genügte ein Strich am Boden, um die Grenze zu ziehen zwischen Mutter und Kind. Der Mutter, die das Kind haben wollte, war die Grenze keine Beachtung wert, sie versuchte es über den Kreis zu ziehen, die Mutter, die das Kind liebte, war der Zaun heilig, sie ließ das Kind los, um es nicht am Zerren über den Zaun zu verletzen. Ist der Raum, den Zäune absondern, groß genug, wird der Zaun nicht als Begrenzung empfunden, lässt es sich leben darin. Je enger der Zaun sich zusammenzieht, desto enger wird es dem Leben darin. Je enger die Umzäunung gezogen wird, desto mehr schließt sich das System, wird zum Käfig, in der radikalsten Form auch nach oben eingezäunt – der Affenkäfig, die Voliere. Zäune bieten auch Schutz: Die Gehschule ist knapp zwei Quadratmeter groß, bietet dem Kind eine Welt, in der es Aufstehen üben und ohne Not umfallen kann. Der Mensch braucht den Zaun, um sich nicht ausgesetzt zu fühlen.

Von Bremen erzählt die Sage, dass die Umkreisung durch einen Lahmen der Stadt die Freiheit gesichert hat. In Bamberg soll Kunigunde die Stadt mit einem Seidenfaden als magischen Schutz umsponnen haben. Ein Lahmer? Ein hauchdünner Faden? Der Zaun braucht die Stärke nicht, er stiftet Heimat, wo er durchlässig bleibt, er erstickt, wo er übertrieben wird. Ein Zauber ist der Zaun; er wird zur Mauer, wenn der Mensch nicht mehr dem Zauber des Zauns vertraut: dass es für alle reicht, dass Frieden möglich ist, dass das Scheiden im Dienste des Verbinden steht, das Teilen im Dienste des Mitteilen. Die Etrusker zogen zuerst mit dem Pflug um neue Städte, zogen die Furche, bevor sie Stadtmauer errichteten und hoben den Pflug dort, wo der Zugang erlaubt sein sollte. Oft wurden Stadtmauern entlang den Strahlungsströmen unter der Erde gezogen, wurden zur misstrauischen Erhöhung, Aufstockung der magischen Linie.[13] In Schlaraffenland war um jedes Haus ein Zaun von Würsten geflochten.[14] Der Zauber des Zauns: Hagazussa ist die etymologische Mutter der Hexe, die Urhexe.[15] Wir finden den Hag in diesem Wort, den Zaun, der die Hege ist, und wissen: Der Zauber des Zauns war nicht bös, er wurde vom Menschen böse gemacht. Hagazussa ist ein geisterhaftes Wesen, das sich auf Zäunen und Hecken aufhält: die Zaunreiterin. Sie bewacht die Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis, erklärter Welt und unerklärter Welt, Enge und Furcht: Die Enge lässt uns Mauern bauen, die Furcht lässt uns über die Zäune steigen, um sie zu ergründen. Die Zaunreiterin führt uns hinüber, lebt da und lebt dort. Erst als wir vor ihr Angst bekamen, verbrannten wir sie: Wir vertrauten dem Zaun nicht, der uns hinübersehen ließ. Wer hinübersehen wollte, wurde verbrannt: die weisen Frauen, die wilden Frauen, die weisen Forscher, die wilden Forscher.

Der Dichter sagte: „Alles braucht einen Zaun.“ Man fragte ihn: Welche Art von Zaun? Er antworte: „Die Wahrheit.“ Man fragte ihn: „Was ist der Zaun der Wahrheit.“ Er antwortete: „Treue.“ Man fragte ihn: „Was ist der Zaun der Treue.“ Er antwortete: „Furchtlos zu sein.“[16] Die Furcht ist nicht die Angst: Angst kommt vom lateinischen angustiae, der Enge. Die Furcht kommt vom griechischen Phobos und sie erfährt ihren Anstoß aus der Weite: Der in den Nachthimmel starrende, ausgesetzte Mensch erlebt die Gewaltigkeit des Kosmos, erlebt Furcht, aber statt die Enge, die Angst zu suchen, sich in die Höhle zurückzuziehen, hinter den Zaun zu flüchten, beginnt er den Grund der Furcht zu ergründen, beginnt den Kosmos abzusuchen in Gedanken, denen er irgendwann eine Mondrakete hinterherschicken wird. Die Furcht ist der erste Schritt zur Furchtlosigkeit, die Furchtlosigkeit ist die Überwindung des Zauns. Fürchtet euch nicht, sagt der Erzengel zu den vor Gott erschauernden Menschen, fürchte dich nicht, sagt der Engel zu der vor Gott erschauernden Maria, die für Gott das Leben stiften sollte. Der Zaun, der die Enge schafft, ist der begrenzende Zaun, der Zaun, der nach Überwindung ruft, das Leben stiftet, ist der verbindende Zaun. In der jüdischen Überlieferung ist die Tradition „ein Zaun um die Tora“[17], der Schutz des Glaubens. Tradition kann in die Enge führen, im erstarrenden Festhalten an dem, was war. Tradition kann verbinden in die Zukunft, in die Weite, in die Unerfassbarkeit des Kommenden.

Wir bilden nach: den Zaun; die Mauer. Die modernen Städte bedürften des Zauns nicht. Die Stadtmauern sind zerfallen, Museumsreste geworden. Aber was tun wir? Wir bauen Zäune ums Kleine, als wüssten wir: Wenn es die Mauer um die Stadt nicht gibt, dann brauchen wir den Zauns ums Haus, ums Gärtchen, um den Fahrradständer. Die Häuser sind sicher, die Gesetze festgeschrieben, gegen die Übertreter gibt es eingefahrene Strafsysteme, Polizeiaufgebote, Alarmanlagen. Kein Zaun in der Stadt hält einen Einbrecher ab. Aber die Stadt ist voller Zäune. So wohnen wir: der Zaun, der kleine Garten, der eingeschotterte Parkplatz, die Hausmauer. Wir bilden nach: die Waldgrenze, die Baumgrenze, dahinter die Almmatten, ausgelegt aus Kunstrasen, geschoren wie Kunstrasen, der Fels, die Höhle. Die moderne Stadt ist verzaunt. Die Stadtmauer ist gefallen, das Ritual der Verzaunung ist geblieben, beschwört die Geister der Unsicherheit. Die Zaunlandschaft in der Stadt ist eine Nachahmung von dem, was war: der Mensch, der in der Höhle haust, hinter sich den Fels und vor sich die Baumgrenze. So wohnen wir: die Baumgrenze, die Almmatte, der Fels. Wir ziehen Zäune: ein paar Stühle vor dem Gastlokal, dicht daneben die Straße, dazwischen ein paar Blumengestelle als Zaun. Der Lärm geht durch, der Gestank geht durch, kein Auto würde aufgehalten durch diesen Zaun. Aber diesseits des Zaunes fühlen wir uns sicher, entsteht ein Raum der Gemütlichkeit, der Sorglosigkeit. So eingegraben ist der Zaun in unserem Sein, dass wir nur die Andeutung des Zauns brauchen, um uns dahinter sicher zu fühlen: ein paar Pfosten an der Straße, eine Linie am Boden, ein paar Sträucher. Zaun heißt im germanischen auch tuna. Es war der eingehegte Platz.

Wir sehen Kalender mit Zäunen und stellen fest: Es sind alte Zäune, verfallene Zäune, schöne Zäune, eine Sprache in der Landschaft, die sich selbst vergessen hat. Der verwitterte Holzzaun, von der Hecke umwuchert, in der das Leben schonend wohnt. Der schöne Zaun ist vergessen, sinnlos, teilt nicht mehr, sondern ist wieder Teil des Ganzen. Wo der Zaun den Wahnsinn überwunden hat, verfällt er in verfallender Schönheit. Der Philosoph[18] fragte: Was ist Ästhetik? Er glaubte zu finden: Ästhetik ist Zweck, die ihren Zweck verliert oder vergisst oder vermissen kann. Wir finden: Ästhetik ist Übereinstimmung von Sinn und Form, ist Wunian. Der Zaun, der noch Teil ist und ums Verbinden weiß, hat eine Ästhetik, wird gedacht, hat ein Design. Lärmschutzwände an den Autobahnen wechseln Farben und Höhen, wechseln von Gelb auf Grün auf Blau auf Braun, den Farben der Landschaft, lassen den Blick durch. Da weiß der Zaun um seinen Eingriff, weiß, dass er teilen muss, um den Wahnsinn zu ordnen, um das Geschrei aufzuhalten, das die Reifen gegen Jericho schleudern, und sucht zu verbinden, indem er die Landschaft hinter sich andeutet, mitteilt: Ich teile, sperre ab den Blick und das Ohr, aber dahinter ist etwas, geht etwas weiter, ist noch Leben. Gucklöcher an Bauzäunen verraten uns, beruhigen uns: Das ist nur vorübergehend abgesperrt, damit etwas werden kann, es wird wieder verbunden werden mit dem Leben, mit der Stadt. Hecken, in denen sich Vögel niederlassen, werden vom Zaun zum Lebensraum,  schaffen einen zweiten Sinn. Auch das ist Ästhetik: Wenn etwas mehr als einen Zweck hat, wenn es zu seinem ersten Zweck einen zweiten dazu bekommt. An Bauzäunen wächst Design: Plakate, Werbung, Mitteilung dessen, was gemacht wird, was gebaut wird, was der Sinn des Zauns ist. Es ist, als ob Vögel in der Hecke nisten würden und dem Zaun einen zweiten, dritten Zweck geben: das Teilen, das Verbinden, das Dasein.

Der Künstler[19] sagte: Ich mache den Zaun um euch zu zeigen, was der Zaun kann. Er zog den Zaun durch die Landschaft, 40 Kilometer lang, 5,5 Meter hoch, aus Stahlpfosten und Stahlseilen, in einem freien Landstrich Amerikas, zuerst abgesteckt mit Holzpfählen. Er verpackte Landschaft, umwickelte sie mit Papier, zeigte: Was ich teile, entsteht neu, ist nicht mehr das, was vorher war. Was ich umzäune, bekommt ein Eigenleben, wird sichtbar als ein Eigenes, wo es vorher Undefiniertes, Unbegrenztes war. Kunst braucht einen Rahmen, durch den Rahmen entsteht das Bild. Der Musiker[20] sagte: Ich lege fest den Rahmen, 4’33 Minuten, ich hebe den Taktstock, dann Stille, 4’33 Minuten lang. Wir hören: die Geräusche im Konzertsaal, das Räuspern, das verlegene Rutschen auf den Stühlen, draußen eine Kuh, ein Auto, Hupen, jemand sagt, was soll das, Husten. Durch den zeitlichen Rahmen, der Zaun der Zeit, ist alles, was in den 4 Minuten und 33 Sekunden geschieht, Musik, Teil der Vorstellung. Der Musiker sagte: Ich lasse den Zaun weg, schrieb ein Stück und befahl es so langsam wie möglich aufzuführen. Am 5. September 2001 begann die Aufführung in der Burchardikirche zu Halberstadt, einer Kleinstadt in Deutschland, im Jahr 2639 soll der letzte Ton verklingen. Es gibt aber auch Theorien, dass das Stück durch Stille zwischen den Tönen unendlich dauern kann. Wie langsam ist so langsam wie möglich?[21]

Eine Wahrnehmungslehre lässt sich versuchen am Zaun. Wir sehen den Zaun nicht, wenn wir ihn nicht sehen wollen, aber wenn wir ihn sehen wollen, sehen wir nur noch Zäune. Wir sehen, fotografieren, zeichnen nach, bilden ab: die Zäune, die einen Sinn haben; die Zäune, die einen Sinn hatten und ihn erfüllten, einen neuen Sinn bekamen, sinnlos werden. Wir sehen nicht, fotografieren nicht, bilden nicht ab im Kalender: den hässlichen Drahtverhau zwischen Kondominiumsgärten, Garagenhöfen, Schrebergärtchen in der Stadt, die Spinnetze aus Maschendraht in Weingärten, Obstfeldern und Wäldern. Ober dem Kaserhof am Ritten hat ein brüchiger Zaun die Pferde in den Wald des Nachbarn schlüpfen lassen, jetzt wird ein neuer Zaun gezogen, mit Brettern befestigt. Im Überetsch ist Wandern durch die Weingärten kaum mehr möglich. Man müsste nach dem unsichtbaren Zaun suchen, der diese neuen, überflüssigen Zäune wachruft. Was wird es sein? Ein neues Bedürfnis nach Abgrenzung, ein neues Bedürfnis, sich zurückzuziehen in die eigenen vier Zäune? Die Angst, dass irgendjemand eindringt in uns? Die Nachbildung der europäischen Außenzäune? Ein neues Gefühl der Enge? Die Zäune, die einen Schutz vortäuschen, der keiner ist, das Drahtgewirr in den Städten, das eine angstmachende Nähe zerschneidet, die Absperrung der Felder, die das Land teilt: Das ist die Neurose des Zauns, ein Schutz vor dem, was wir nicht aushalten können, und um es aushalten zu können, täuschen wir uns mit einem Übermaß an Zaun. Wir leben in einer Welt ohne Stadtmauer, in einer Zeit ohne Sicherheiten, in einem Universum, das sich auflöst. Der Zaun beruhigt.

Wir sagen: wir neigen zur Übertreibung des Zaunes. Wir haben übersehen oder vergessen zu fragen: Gibt es auch eine Übertreibung der Überwindung des Zaunes? Das Niederreißen der Zäune: Und wieder stand der Zaun da, den wir niedergerissen hatten, als würden wir ihn brauchen. Teilen und Verbinden. Das Teilen ohne Verbinden lässt uns vereinsamen, verarmen, ersticken. Das Verbinden ohne Teilen halten wir nicht aus: Der Embryo, der nicht das Wasser verlässt, das Kind, das sich nicht von der Mutter löst, der oder die Jugendliche, die nicht den Schritt aus dem Kreidekreis der Familie hinaus macht – sie haben kein Leben. Überall wo ein Zaun niedergerissen wurde, vermissen wir den Zaun: Die Geborgenheit im Wasser, das Aufgehobensein im Nichtwissen um Gut und Bös, die Fettschicht des Schlaraffenlandes, die Höhle der Mutter, die Stadtmauer, die Grenzen der Sprache. Im Niederreißen der Zäune, im Hinwegwollen über alle Zäune hinaus zerstört der Mensch die Welt – nicht nur sinnbildlich, auch tatsächlich an jener Schutzhaut, die unseren Planeten einhüllt und vor den Gasen abschirmt, die draußen im vermeintlichen Nichts strömen, die Zersetzung der Ozonschicht durch das hemmungslose Leben auf Erden.

Der Forscher betrachtet diesen Zaun und findet: Das ist ein Zaun, den wir nicht niederreißen dürfen, ist ein Filter wie die anderen Zäune auch – lässt durch, was durchdarf, hält ab, was nicht durchdarf, wie alle unsere Membranen so auch die Membran der Welt, auf der wir leben. Der Forscher dreht den Zaun um und fragt: Vielleicht rührt das hemmungslose Niederreißen von Zäunen daher, dass wir einen Zaun zu scharf gezogen haben, dass wir ihn zur Mauer werden ließen – der Zaun zwischen uns und der Natur, als würden wir nicht dazu gehören. Feindselige Tiere draußen halten war der Zweck des Schutzsuchens hinter der Hecke, in der Höhle, alles Leben draußen halten war das Errichten steriler Betonwelten, in der kein Leben von draußen nach innen kommt, in der wir Bakterien bekämpfen, die wir zum Leben brauchen, Arten vernichten, die unsere Medikamente sind, Welten zerstören, mit denen wir unsichtbar verbunden sind. Der Mensch hat einen Zaun errichtet zwischen sich und der um ihn liegenden Welt, wähnt sich in Sicherheit und vergisst: Der Zaun ist ein Zeichen des Teilens, ist Teil, ist Zeichen, ist ein Zeichen, dass alles ein Teil ist. Geht das Ganze verloren, ist auch das Teil dahin.

Der Philosoph betrachtet die Welt: Wo ist der Zaun geblieben? Gibt es die Zäune nicht mehr? Nein, sie sind noch alle da, verwittert, geflickt, neu entstehend aus neuer Zeit, neu gezogen an neuen Linien. Aber die Bilder? Diese schnellen, vergehenden, stofflosen Bilder, die kommen und gehen, werden sie nicht, so wie einst die Schrift das Denken gestützt hat, alles auflösen?[22] Wir sagten: Der Zaun ist Teilen, ist Mitteilen, ist Kommunikation. Dieser Zaun ist virtuell geworden, fliehend, schnell, wächst da, wo er will, lässt sich nicht umstürzen, aber auch nicht niederreißen, aber auch nicht verfestigen, versteinern. Nie war Information so schnell, so grenzenlos, nie war Wissen so verbreitet, so vernetzt, so verbunden: Wir leben im Zeitalter des Mitteilens. Nie war die Welt so grenzenlos. Wir sagen: Wir leben im Zeitalter der Globalisierung. Der Forscher sagt: Es gibt eine Globalisierung, die trennt, und eine Globalisierung, die verbindet.[23] Wir haben die Welt geteilt in Lebensräume, Reviere, Jagdgründe, Städte, Staaten, Kontinente, Märkte. Jetzt sind wir dabei, diese Welt Stück für Stück wieder zu verbinden, Teil an Teil zu fügen zu einer Mitteilung. Wir sagen: Wir leben im Zeitalter des Netzes. Das Netz ist ein Zaun: Es hält das Zerlegte zusammen, es lässt durch, es verbindet.

Es gibt auch den anderen Zaun noch: Er zerschneidet das Netz, greift Festplatten an, kontrolliert und zentralisiert das Wissen, zieht geschützte Bereiche, grenzt sie ab, verlangt ein Password, das zum neuen Pass der Informationserde wird, macht aus dem Einloggen oder Nichteinloggen die Zugehörigkeit, verlangt Eintrittspreis in die Welt des allseits zugänglichen, offenen, uneingeschränkten Wissens. Ein neuer Zaun wird gezogen, überall auf der Welt: zwischen denen, die sich Wissen leisten können und davon gut leben, zwischen denen, die sich Wissen nicht leisten können und im Elend bleiben, zwischen denen, für die Wissen Macht ist, und jenen, für die Nichtwissen Ohnmacht ist. Die Befürworter des Zauns sagen: Jemand muss zahlen. Also wird eingehegt das Wissen, werden Stadtmauern gezogen, wo keine waren oder nur Zäune.

Die Befürworter der Mauer sagten nie: Jemand muss zahlen. Für die Bewachung der Mauern, für den Krieg, der im nur teilenden, aufs Mitteilen vergessenden Zaun mitgegeben ist, war der Preis nie eine Frage: Es zahlten alle, das Volk mit Steuern und Blut. Wir wissen: Wissen überwindet den Zaun, trachtet ihn zu überwinden, sieht das Gute im Bösen, das Böse im Guten, weiß um das Mitteilen über den Zaun hinweg. Wir haben gefunden: Wissen begnügt sich mit wenig Schutz, verlässt den Schutz, verzichtet auf die eigene Sicherheit, bedarf der Mauer nicht, bedarf des Soldaten nicht, sondern erübrigt ihn, denn wir wissen: im Bösen steckt Gutes, im Guten steckt Böses. Wir könnten eintauschen: Soldaten gegen Wissen, Heere gegen Studierende, eingezäunte Kasernen gegen offene Universitäten und offene Kunsträume und offene Netze – Mauern gegen Zäune. Aber die Mauer ist starr: Sie wird beschützt, bewacht, abgeriegelt, mit Eintrittspreisen bewehrt, mit Soldaten besetzt, um Menschen auszusperren, Menschen einzusperren. Aber die Mauer wird fallen, es ist noch jede Mauer gefallen: Jericho, China, Berlin. Sieben Mal werden die Ausgeschlossenen um sie herum ziehen mit der Bundeslade des Herrn und sie wird zusammenbrechen unter dem Geschrei. Nur der Zaun kann überdauern, hat überdauert: oben am Rittnerhorn, auf der Seiser Alm, drüben in Fanes, dort, wo Menschen über einen Zaun hinweg reden, zwischen Frau A. und Familie L., zwischen der Sprache der Macht und der Sprache der Ohnmacht, hat überdauert im Mitteilen, hat gehalten, weil er durchgelassen hat und weil er weiß: auch drüben ist Leben, auch draußen ist Leben, es lässt sich nicht teilen, es ist ein Teil, ein uns Zugeteiltes, Mitgeteiltes des Ganzen, das wir nicht teilen, sondern aufteilen können, im Sinne von Teilhaben. Der Zaun teilt zu, teilt mit, lässt teilhaben.



[1] Platon: Politeia, Bd. 7. Berlin: Akademieverlag 1997.

[2] Heidegger,  Martin: Das Ding. In: Heidegger, Martin: Vorträge und Aufsätze. Teil II. Pfullingen: Neske 1985.

[3] Mentzos, Stavros: Neurotische Konfliktverarbeitung. Einführung in die psychoanalytische Neurosenlehre unter Berücksichtigung neuer Perspektiven. Frankfurt am Main: Fischer  Taschenbuch Verlag 1984.

[4]  http://de.wikipedia.org/wiki/Zaun

[5] Heidegger, Martin: Bauen, Wohnen, Denken. In: Heidegger, Martin: Vorträge und Aufsätze. Teil II. Pfullingen: Neske 1985.

[6] Lèvy, Pierre: Die kollektive Intelligenz. Eine Anthropologie des Cyber-Space. Mannheim : 1997.

[7] Lèvy, Pierre: Die kollektive Intelligenz. Eine Anthropologie des Cyber-Space. Mannheim:  Bollmann, Kommunikation & neue Medien 1997.

[8] McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Köln: Bollmann-Verlag 1996.

[9] Joh 1,1-18

[10] Jos 6,1-27

[11] Jericho selbst liegt nicht am West-Bank-Zaun; die Stadt war die erste, die 2005 von Israel geräumt werden sollte.

[12] Heidegger, Martin: Die Frage nach der Technik. In: Heidegger, Martin: Vorträge und Aufsätze. Teil II. Pfullingen: Neske 1985.

[13] http://de.wikipedia.org/wiki/Zaun

[14] Sachs, Hans: Das Schlaraffenland.

[15] www.sphinx-suche.de

[16] Schlomoh Ibn-Gwiról, mystischer Dichter, ca. 1020-1057, Spanien. Quelle: http://www.hagalil.com/judentum/sfarad/gabirol.htm

[17] Talmud: Berakhot I,1.ff. Quelle: www.christen-heute.de/ARC/4-2-03.html-

[18] Kant, Immanuel: Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. 3. Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001.

[19] Christo und Jeanne Claude: „The running fence“; der Verpackungskünstler baute u.a. auch römische Stadtmauern nach.

[20] Cage, John: Musikstück „4’33“ erstaufgeführt 1952.

[21] Cage, John: „Organ2/ASLP“.

[22] Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder. 4., durchges. Aufl. Göttingen: European Photography 1992.

[23] Morin, Edgar / Kern, Anne Brigitte: Heimatland Erde. Versuch einer planetarischen Politik. Wien: Promedia Druck- und Verlagsges.m.H 1999.

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