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Die Brücke

Die Brücke schwingt sich „leicht und kräftig“ über den Strom. Sie verbindet nicht nur schon vorhandene Ufer. Im Übergang der Brücke treten die Ufer erst als Ufer hervor. Die Brücke lässt sie eigens gegeneinander liegen. Die andere Seite ist durch die Brücke gegen die eine abgesetzt. Die Ufer ziehen auch nicht als gleichgültige Grenzstreifen des festen Landes den Strom entlang. Die Brücke bringt mit den Ufern jeweils die eine und die andere Weite der rückwärtigen Uferlandschaft an den Strom. Sie bringt Strom und Ufer in die wechselseitige Nachbarschaft. Die Brücke versammelt die Erde als Landschaft um den Strom. (...) Die Brücke versammelt auf ihre Weise Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen bei sich.“[1]

Solange Schnee lag, durfte er nicht mehr kommen, seine Spuren kreuzten Spuren von Rehen wohl, Menschenspuren da hinauf, der Abdruck der Sohlen, die den Bäumen entlang schreitende Folge von Schritten, ein jeder den Atem der Nacht gefrierend, über ihm die schwarze Schlange, schwärzer als die Nacht, schwarz abstechend gegen die Lichtsprenkel der anderen Zeit, der Philosoph hatte nicht Recht, die Brücke versammelte nicht die Erde um den Strom, sondern schnitt entzwei die Erde und den Stromm, versammelte nicht Himmel und Erde, sondern zerschnitt den Himmel, schnitt ab die Sterblichen vom Göttlichen, lag wie ein dunkler Sarg über dem Schneebett des Tales. Der Winter vor dem Schneefall würde eine gute Zeit sein, niemand würde Spuren sehen, die Vorstellung, man würde seine Spuren suchen, im Dorfgasthaus, wo er einkehrte, nach ihm fragen, das Auto am Ende des Weges absaugen nach Hinweisen auf ihn, gab ihm, der die Antwort wüsste, der Auskunft geben könnte in stundenlangen Verhören, eine nie endende Gerichtsverhandlung lang, ein Gefühl von: da gewesen sein.

Im Zug: die Serpentinen auf halber Höhe durch das Tal, unten das Dorf, über ihm auf der anderen Talseite das Schlangenband der Autobahn, noch ein Tunnel, dann würde er sie sehen. Immer dasselbe Bild: immer neue Verwunderung. Lag sie da? Ruhte sie? War sie hineingestemmt zwischen die Ufer? Wie würde sie fallen? Der dritte Pfeiler: 184 Meter hoch, Quader für Quader aufgegossener Beton, von dort 198 Meter zum nächsten Pfeiler, in der Mitte: der tiefste Punkt; der höchste Punkt. Wie würde es sein, wenn da oben jemand stünde und vornüber kippte, diese Strecke zu fallen, 190 Meter fallen, wie viele Sekundenbruchteile würde er noch glauben, dass es ein Zurück gibt, ein ungläubiges Rudern der Arme gegen das Fallen, wann würde er sich ergeben in den Fall, wann würde er tot sein oder lieber tot sein, um den Schrecken des Aufpralls nicht denken zu müssen, das war die Arbeit der Spurensicherung. Was würde übrigbleiben, wohin verstreut, wohin geklatscht?

Dann war sie da, im Halbkreisausschnitt der Tunnelausfahrt, über den Himmel gespannt. „Guck dir diese Autobahnbrücke an, Georg“, rief die Mutter. „Wau echt cool“, rief der Bub. Das Staunen damals: nachzulesen. Postkarten mit der Brücke: ein neues Wappentier. Die Erbauer: stolz. Die Totentafel: ausgestellt an der Brücke im Gedenken an. Die Wandbilder in der Kapelle oben: Leben, hinter dem das Erbleichen der Knochen sichtbar ist. Carpe diem, abgebrochen in der Stunde des Tages. Die Sense. Wer weiß von den Toten? Die leuchtenden Augen des Buben, sich ausmalen, wie sie aufgerissen würden, wenn er das Schauspiel sehen könnte. Würde es jemand sehen? Zu welcher Zeit? Er hatte an die Nacht gedacht. Das Entsetzen würde am nächsten Tag begutachtet werden, abgemessen, abgebildet, würde durch den Zug gehen, schaut, die Brücke. Würde durch die Gasthäuser gehen, unten im Dorf. Die Bruckn. Ausradiert aus den Postkarten, getilgt den Stolz, der unerträglich wurde. Die neuen Bilder: ein Loch in der Luft, wo die Brücke. Die nie mehr erlöschende Möglichkeit der Wiederholung: die Angst aller, die über eine Brücke fahren. Wissen um eine Tat, die noch nicht geschehen ist: War das nicht so sein wie Gott?

Im Dorf: Zu oft durfte er nicht kommen. Drei Häuser. Das Gasthaus. Sie würden sich an ihn erinnern. Hat der Philosoph an das Dorf gedacht? Es war aus der Mitte des Tales unter die Brücke gerutscht, in ihren Schatten hineingeraten, darüber das Gestell. Wo war der Strom, den zu überwinden die Brücke gebaut werden musste? Da war doch nur ein Bach. Er dachte das Dorf, die Brücke, den Bach. Er dachte die Abstände. Er dachte die Ausmaße der Abstände zwischen Brücke und Bach und Brücke und Tal und Brücke und Dorf. Er maß ab die Breite der Brücke, maß ab die Länge der Brücke, maß ab den Schatten. Er maß ab den Bach. Er fand: etwas stimmte nicht. Er hatte gedacht dem Gedanken des Philosophen entlang: Die Brücke verbindet nicht A und B, sie schafft den Ausgangspunkt und den Endpunkt neu. Schafft die Ufer, die Landschaft, die Mitte, den Ort. Wird Landschaft. Das Gestell in der Landschaft, das den Ort verstellt, die Natur stellt, von ihr fordert den Preis für das Leben um den Preis für den Tod, am Ende alles eine Bestellung: Wer zahlt, bekommt. Aber wer zahlt womit? Er wusste, dass die Gruppe die Antwort wusste, auch wenn es nicht seine Antwort war. Er hatte den Tischler gefragt, der keine Antwort wusste: Lachte zu laut, klopfte Sägemehl aus dem Schurz, wischte ab die Spuren von Sprengstoff, den er immer noch versteckt hielt seit damals vor 40 Jahren und immer wieder aufsuchte, um sich zu erinnern und eine Antwort zu finden. Wozu? Ein Tirol, lachte der Tischler. Das ist vorbei, sagte er. Es ist nie vorbei, lachte der Tischler nicht mehr. Doch, sagte er, das ist vorbei, etwas anderes nicht. Der Tischler verstand nicht, wird nie verstehen: Es ging nicht mehr um das Land drinnen, nicht um einen gedachten Ort, auch nicht um den geteilten, denn der Ort war zusammengehängt durch die Brücke, über die der Tod fuhr. Verstehst Du, Tischler! Es geht um das Leben, nicht um das Land. Freilich, sagte der Tischler, aber das Land muss befreit werden, sonst ist es kein Leben. Das Land!

Die Brücke lässt dem Strom seine Bahn und gewährt zugleich den Sterblichen ihren Weg, dass sie von Land zu Land gehen und fahren. Brücken geleiten auf mannigfache Weise. Die Stadtbrücke führt vom Schlossbezirk zum Domplatz, die Fußbrücke vor der Landstadt bringt Wagen und Gespann zu den umliegenden Dörfern. Der unscheinbare Bachübergang der alten Steinbrücke gibt dem Erntewagen seinen Weg von der Flur in das Dorf, trägt die Holzfuhre vom Feldweg zur Landstadtstraße. Die Autobahnbrücke ist eingespannt in das Liniennetz des rechnenden und möglichst schnellen Fernverkehrs. Immer und je anders geleitet die Brücke hin und her die zögernden und die hastigen Wege der Menschen, dass sie zu anderen Ufern und zuletzt als die Sterblichen auf die andre Seite kommen.[2]

Der Umfang der Pfeiler. Die in den Wald gesetzte Wucht, ruhende, drückende Schwerkraft. Der Tischler hatte gelacht: Die Bruckn? Ja, warum denn die Bruckn? Habt ihr nicht an die Brücke gedacht, damals? Sie war euch doch in den Weg gebaut. Nein, das sah er so nicht. Oder doch? Es war schwer, Dinge an ihr Ende zu denken. Es war so einfach gewesen damals: Es ging um das Land drinnen, und es war ein verlorenes Land und es war ein gestohlenes Land, das zu befreien war, um sich selbst zu befreien aus einem gestohlenen Leben, das wiedergefunden werden musste. Die platzenden Äderchen auf der Wange, als er geschlagen wurde: die Tränen der Schwester mit den abgetrennten rot-weißen Knöpfen auf der Trachtenjacke. Die behaarte Hand des Carabinieri. Die schwarze Uniform. Bastardo: Der Abdruck des Wortes in seinem Trommelfell. Die Stiefel: der Abdruck der Stiefel im Gedächtnis seiner Waden, mit denen er vor den Richter trat: Ich bin Tiroler.

Nein, die Brücke sahen sie nicht. Sie verband ja, glaubten sie, und merkten nicht, wie das Land nicht nur der Breite, sondern auch der Länge nach zerschnitten wurde: wie ein Ort aus der Mitte rückte und zum Ufer der Brücke wurde. Der Landeshauptmann, der Hofrat des Landesbauamtes, der Ingenieur hatten oben gestanden und hinüber geschaut über das Tal, die gerade Linie hinüber nach Patsch. Können Sie sich vorstellen, da eine Brücke hinüberzubauen? A Bruckn? Gerade hinüber? Teufel. Ja verflixt, eine Bruckn da drüber, grad übers Tal? Ja, grad hinüber. Verflucht, sagte der Ingenieur und zeichnete mit dem Autoschlüssel fünf Pfeiler in den Waldboden: Teufel, das wird was. Die Brücke war da gewesen in diesem Augenblick, hinübergelegt auf die andere Teilseite, auf fünf Pfeilern in das Tal gesetzt.

Der Freiheitskampf im Schatten des Brückenbaus: Gebückt durch den Wald hetzen, Gewehr in der Hand, die Grenze an Silhouetten erahnen, auf eine Hütte schießen. Schießt! Schießt! Schießt! Ha! Jetzt kriegen sie Angst die Walschen. Und in ihrem Rücken wurde die Brücke gebaut, und sie verstanden nicht, das die Brücke das Land klein machen würde und dass auf ihr über Tirol hinweggefahren würde, als wäre es nicht mehr da. Du Luder du, schlug er daheim auf sie ein: denn sie verstand auch nicht. Schlug ein auf die behaarte Hand, die nach ihm schlug, schlug ein auf den Schatten der Uniform in seinen erblindenden Augen. Aufhören!, Aufhören! flehte sie, bis er heulte und sie erkannte. Kann nicht aufhören, sagte er, als er durch Gitter die Hand ihr reichte: Was macht das Volk? Das Volk, lachte sie. Du und dein Volk. Aber das Land, sagte er: das Land war es wert. Du und dein Land, lachte sie: das Land gibt es nicht mehr. Du Luder du, schlug er nicht, als er heimkam und ein Kind mehr dort war. Suchte auf die Verstecke, zählte die Sprengstäbe, die Zündkapseln, die Rohre, ließ Pulver durch seine Finger rieseln. Das Land, sagte er, das Land ist es immer noch wert. Aufhören, Tischler!, schrie er ihn an, du musst aufhören, an das Land zu denken: Schau die Brücke an. Er wusste: Der Tischler würde eine Wut kriegen.

Der Vater: Diese feste Hand, die ihn zog, den Waldweg hinauf, an den Betonlacken vorbei, halt dich fest, Bub, da rutscht man aus. Er hatte ihm die Pfeiler zeigen wollen, die wie Stümpfe aus der Erde wuchsen. Da ganz oben kommt die Bruckn, Bub. Das Staunen. Ganz oben, da kann sie ja niemand halten. Doch, die Pfeiler müssen noch so hoch werden, dann legen wir sie drauf, Bub, das wird was. Daheim der Vater über den Tisch gebeugt, ausgebreitet die Pläne, die Details nachrechnen, die der Ingenieur in den Waldboden gekritzelt hatte, Beton bestellen. Arbeiter bestellen, die feste Hand, die den Bleistift hielt. Kaffee am Arbeitstisch. Das Leuchten in den Augen: Bub, das wird was. Dann das bleiche Gesicht des Vaters: wieder einer tot. Vom Gerüst gefallen. Von einem Stein erdrückt. Ausgerutscht beim Betonmischen. In der Stunde des Tages abgebrochen das Carpe diem: Das bleiche Gesicht des Pfarrers in der Tür, das Zusammenzucken der Mutter.

Er suchte die Wut in den Augen des Tischlers. Wozu habt ihr Masten gesprengt? Auf die armen, vor Angst schlotternden Wichser an den Grenzposten geschossen? Warum habt ihr die Brücke nicht gesehen? Ja, mei, wir wollten ja zusammen... Was, zusammen. Ja, a Bruckn verbindet. Was? Ja Südtirol, alles. Aber sie verbindet doch auch Österreich mit Italien. Sie fahren uns nieder auf dieser Brücke. Pfui Teufel, sagte der Tischler. Einen Schluck Schnaps. Sie hatten daran gedacht, aber nicht an die Brücke: wollten schießen, auf die Reifen der Autos, damit die Gäste wegbleiben, bis Italien das Land hergibt, das gestohlen war, nur darum ging es, doch nicht um eine Brücke. Wollten festschreiben den Preis der Grenzbewachung mit Blut, auf dass das Land vereint wird, das geteilte. Das vereint gedachte Land. Ihr habt die Dinge nicht zu Ende gedacht, sagte er dem Tischler, der es nicht begriff.

Der Zweifel: Gab es das Ende überhaupt, an das sich denken ließ, oder war es immer nur ein von Gedanke zu Gedanke zurückweichendes Ende, eine Endlosigkeit? Auch der Philosoph hatte nicht zu Ende gedacht sein Denken von der Brücke, hatte nicht zu Ende denken können, weil hinter jedem Ende ein neuer Anfang war zu einem neuen Ende. Der Philosoph hatte die Abstände nicht berücksichtigt, sprach von der alten Holzbrücke über den Bach, sprach von der Autobahnbrücke über den Strom. Aber wo war der Strom? Da war nur ein Bach, überquert von einer Autobahnbrücke. Er schritt ab den Bach im Schatten der Brücke, stieg und kletterte und zog sich an Ästen hoch, sprang über Steine, rutschte aus, fluchte. Da war kein Strom. Das war es, was nicht stimmte: Die Brücke war unverhältnismäßig. Sie diente nicht dem Überqueren eines Baches, sondern war durch den Himmel gebaut. War dies das Ende der Gedanken? War die Verhältnismäßigkeit die Frage, an der alles zu messen war, die entschied über Recht oder Unrecht? Er ertrug es nicht, dass etwas so unverhältnismäßig war.

Er musste die Gruppe treffen. Sie hatten nicht seinen Gedanken, dachten nicht an das Ende, aber ihre Gedanken lagen auf dem Weg zu seinen Gedanken. Sie sahen keinen gedachten, sondern einen daseienden Ort, der Dasein nimmt. Auch sie sahen die Brücke nicht, aber sie sahen die Straße, die teilt, die durch ihr Leben fährt: Durch ihre Luft. Durch ihre Ohren. Kolonnen auf dem Weg durch ihre Träume. Sie hatten sich entschieden: Die Brücke war eine Verbindung, da hatte der Tischler Recht, aber sie war eine Verbindung nicht für das Leben, sondern für den Tod. Zeitungsausschnitte, Aufrufe, Protestbriefe, Dokumente, Akten, beschönigte: 1,6 Millionen Lastautos im Jahr, voriges Jahr elf Prozent mehr, heuer 18 Prozent mehr, in zehn Jahren 45 Prozent mehr, wenn es dabei bleibt. Das verkraften wir nicht. Und sie tun nichts. In Vomps haben mehr Frauen Krebs als in Wien, sagten sie. Die Frau vom Thaler hatte es auch, hat jetzt Silicon drin. Hat das mit der Luft zu tun, fragt einer? Wir gehen alle drauf. Und sie tun nichts. Die Mafia in Brüssel. Abgschmiert werden’S. Wie oft sollen wir noch auf die Straßen gehen? Sie lachen uns aus. Die Kinder, für die Kinder, sagt einer. Hast du gelesen: Das Landesbauamt warnt, dass die Belastung für die Brücke zu groß wird. Was soll noch passieren? Der Landeshauptmann droht mit Kontingentierung. Reden, reden, reden, sagt einer. Sie muss weg, die Brücke.

Er wusste: das war es nicht. Es ging um Gerechtigkeit, eine genaue, abwägende Gerechtigkeit. Schuld und Verdienst der Brücke auf die Waage gelegt, dann noch einmal genau hingeschaut. Das Bild der Brücke auf der Postkarte: zur linken die bleiche Gestalt, zur rechten das Volk, dazwischen das stolze geschwungene Band der Brücke, wie es durch die Berge schießt, größer als die Berge, größer als das Land. Er drehte das Bild: jetzt war es ein Totenbild. Denn die Anklage war: Die Brücke trennte und verband auf unverhältnismäßige Weise, überquerte einen Bach auf fünf Stahlbetonpfeilern, 190 Meter hoch, 820 Meter lang, 24,6 Meter breit, legte sich über einen Ort mit 70.000 Kubikmeter Betonvolumen, 60 Tonnen Spannstahl, 1400 Tonnen Schlaffstahl. Er wusste: Er würde den Stab brechen. Er kannte ihr mächtiges Stahlband wusste, wo die Punkte waren, die die Schlange am Himmel zum Zucken bringen würden, hatte berechnet das Für und das Wieder, das die Brücke hielt, hatte Formeln studiert, kannte die Schlange, war ihr Herr. Er wusste nur noch nicht: Zeitpunkt und Verhältnismäßigkeit. Wie viel musste gesühnt werden an der Unverhältnismäßigkeit der Brücke?

Der Ort ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. Zwar gibt es, bevor die Brücke steht, den Strom entlang viele Stellen, die durch etwas besetzt werden können. Eine unter ihnen ergibt sich als ein Ort und zwar durch die Brücke. So kommt denn die Brücke nicht erst an einen Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht ein Ort.[3]

Die Mautstelle: Eintrittzahlen für die Befahrung der Brücke. Ausscheren mit dem Auto, aussteigen, die Füße vertreten an einem großen bedeutenden Ort, einatmen die benzingetränkte Luft, als stünde man auf einem Gipfel und genösse das Dünnerwerden des Odems: Die Weite ausgetauscht mit einer künstlich geschaffenen Weite, den Schwindel beim Blick über das Höchste ersetzt durch den Schwindel beim Betreten des Fußsteiges entlang der Fahrbahn. Ein Land verbunden mit der Welt: kleiner gemacht durch die Brücke. Die Anklage stand: Die Brücke war in den Himmel gebaut. Jeder Schritt auf die Brücke kostete ihn Überwindung, aber es musste sein, es musste abgeschritten werden der Ort Babylon. Er stellte sich das Fallen der Arbeiter vor, hielt sich fest am Geländer, wollte weinen, konnte nicht, wollte schreien, stammelte. Die Kunde von der Fahrt über die Brücke: Onkel Wastl, Tante Gertrud, seine Kusine Emilie, sie stiegen aus am Ort der Ankunft, kreischten, Onkel Wastl klopfte auf die Uhr und brüllte: 20 Minuten! Nur 20 Minuten vom Brenner hierher. Erregung auf den Wangen, Rausch in der Stimme vibrierend – für ihn aber stand die Uhr still, gefror die Welt, erstarrte Onkel Wastl, erstarrte Tante Gertrud, erstarrte die lachende, kichernde, hüpfende Emilie. Der Onkel erblasste, legte ihm die Hand auf die Schulter, Bub, ich versteh dich, sei stolz auf deinen Vater, kannst stolz sein. Er wankte zurück, schritt zur Kapelle, besah die Bilder des Fleisches, die das Bleiche der Knochen preisgaben, den Tod im Leben entblößten, las die 22 Namen, bis auf den einen, den zu lesen, ihn zu sehr blendete.

Die Musikkapelle war über die Brücke marschiert, war marschiert mit hymnischem Gedröhne über den Grabstein, der über das Tal gelegt war. Frohlockendes erhebendes Scheppern, hinausgebrüllt in die Grenzenlosigkeit des Augenblicks, ein jubelnder Trauermarsch für die 22 im Grab der Brücke. Immer genannt. Nie vergessen. Nie unterschlagen. Immer genannt, als gehörte das dazu: als wäre in den Berechnungen von Spann- und Schlafstahl, von Betonmassen und Arbeitsstunden inbegriffen der Preis der 22 Gefallenen. Als gehörten sie zum Material, das verschlissen werden muss bei so einem Bau. Als gehörten die vom Leben der Toten abgezogenen Sekunden in die große Rechnung des schnellen, rechnenden Fernverkehrs. Die Frau in Vomps, die Kinder mit dem Husten in der Lunge, die nicht mehr gezählten gestohlenen Lebenssekunden am Rande der Straße, ein verschwindender Posten in der Gewinn- und Verlustrechnung der Brücke. Damals zählte es nicht, es war die Brücke in die neue Zeit. Er lachte: Europa überquert einen Bach. Sie dachten falsch, die von der Gruppe, denn sie glaubten, es ginge darum: zu verhindern, dass jemand über die Brücke fährt. Die Brücke ist dazu da. Der Bach hat nur den einen Sinn: überschritten zu werden. Dazu ist die Brücke an den Anfang gesetzt im Dienste des Lebens, das von A nach B will. Das war es nicht. Es war die Verhältnismäßigkeit. Sie war verletzt worden, sie musste wiederhergestellt werden. Das war sein Urteil.

Ja, dann in Gottes Namen die Bruckn. Schauen werden die Leut, lachte der Tischler und handelte sich aus, dass er den Namen es Landes an den Felsen schreiben dürfe, da, wo die Schnittwunde klafft: Ein Tirol. Ja, in Gottes Namen, schreib es hin, sagte er. Aber nicht an der Brücke, sondern da, wo das Land geteilt ist. Ja, aber am selben Tag, schreib ich es hin. Ja, in Gottes Namen, sagte er. Er wusste, dass es nicht darauf ankommen würde, was da stand, sondern darauf, was da nicht mehr stand: das Loch in der Welt. Die Gruppe bestand auf eine eigene Schrift, auf dem Felsen, da wo das Land der Länge nach zerschnitten ist: Tirol lebt! schlug einer vor. Sie sprachen über Tote und begannen aufzurechnen die Toten, die die Brücke bringt, weil sie das Leben tötet, gegen die Toten, die sie opfern müssten, wogen ab den Schreck, der durch die Welt gehen würde, und um wie vieles stärker er sein würde, je mehr es Tote gäbe. Er sagte: keine Toten, es sind schon genug Namen auf der Liste. Sie sahen ihn an. Er sagte: Es ist so, ich habe zu Ende gedacht, was zu tun ist. Sie sagten: Dann soll es gut sein und drückten ihm die Hand. Er sagte, was er brauchen würde, wo und wann, und sie sagten, das würden sie besorgen. Er sagte: Ab jetzt ist Schweigen zwischen euch und mir. Von da an ging er allein, suchte den Weg, schritt ab, was zu tun war, dachte zu Ende, dachte an jedes Ende: Wie würde es sein, von da oben zu fallen, wann würde man wissen, wo das Ende ist? Und er hatte den Traum: Er fiel von der Brücke mit gellendem Schrei, er hörte die Mutter, wie sie zum Bub sagt, „guck, da fällt einer von der Brücke“, er hörte, wie der Bub sagte, „Wau, cool“, er sah im Traum, wie die Brücke hinter ihm her stürzte ihn einzuholen, aber er fiel schneller und er lachte, als er sah, wie sie in 1000 Fetzen auseinanderflog, bevor sie ihn erdrücken hätte können, ihr Ende war vor dem seinen gewesen, er hatte weitergedacht im Traum.

Die Erde war hart geworden und es war noch vor dem ersten Schneefall, die richtige Zeit. Er schritt ab die Pfeiler, sprach leise mit sich selbst, während er die Arbeit verrichtete, stellte die Uhren ein, nahm das Auto, fuhr talauswärts, fuhr zur Brücke hinauf, kontrollierte die Uhr, er war in der Zeit, hielt an der Tankstelle, stieg aus, eilte auf die Brücke, die Absperrung war vorbereitet, im Nu aufgestellt, er war in der Zeit; er wusste, drüben waren jene von der Gruppe, die dasselbe taten, sie hatten Wort gehalten.

Jetzt hätte er gehen können. Ein Auto nach dem anderen hielt an, nachtgesichtige Fahrer stiegen aus, fragten in fremde Gesichter, was denn los sei. Eine Absperrung, sagte einer, vielleicht ist was mit der Bruckn. Zuschauer, dachte er. Jetzt weg, schnell weg, dachte er. Aber es zog ihn auf die Brücke, als müsste er sich vergewissern, dass die Geschichte an ein Ende kommt, ging hinaus in die unter seinen Füßen schwankende Finsternis, blieben stehen irgendwo mitten drin, und er spürte, wie groß der Augenblick war. Er auf der Brücke, jetzt und in diesem Augenblick. Er rief den Vater an, betete und hoffte, dass er jetzt, jetzt endlich ans Ende kommen würde, ans Ende der Gedanken. Er hörte die Stimme des Vaters, aber sie klang fremd, er wusste nicht einzuschätzen, ob der Vater böse war oder dankbar, was soll ich tun, Vater, rief er in die Nacht und verstand die Antwort nicht, denn der Wind wehte sie hinweg, er rief weiter, aber jetzt hörte er nichts mehr, Verzweifelung ergriff ihn, mein Vater, mein Vater, schrie er über das Brückengeländer, warum hast du mich verlassen, da hörte er die tröstende Stimme, die ihm sagte, Bub, es ist doch nie etwas verhältnismäßig, soweit hatte er nicht gedacht, aber er fand, es war ein großer Gedanke, der kein Ende hatte, nicht dieses.

Über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung. Er schwang sich über, als der ausgezeichnete Turner, der er in seinen Jugendjahren zum Stolz seiner Eltern gewesen war. Noch hielt er sich mit schwächer werdenden Händen fest, erspähte zwischen den Geländerstangen einen Autoomnibus, der mit Leichtigkeit seinen Fall übertönen würde, rief leise: „Liebe Eltern, ich habe euch doch immer geliebt( ...).

In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr.[4]


[1] Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken. In: Vorträge und Aufsätze, Teil II. Pfullingen: Neske 1985, 26-27.

[2] Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken. In: Vorträge und Aufsätze, Teil II. Pfullingen: Neske 1985, 27.

[3] Heidegger, Martin: Bauen Wohnen Denken. In: Vorträge und Aufsätze, Teil II. Pfullingen: Neske 1985, 28.

[4] Kafka, Franz: Das Urteil. In: Kafka, Franz: Erzählungen. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1983, 53.

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