Textende
Zurück zu Veröffentlichungen
Zurück zu Fremdgehen/Forschungsprojekt "Heimat"
Home

 

 

Eine Heimatbegehung                                                                                                                                                    

Südtirol, Bozen, Dr.-Streiter-Gasse

„... Die vertrauten Lokale sind leise gegangen, die Gäste verzogen, die ihr das Leben gaben. Neue kamen aus dem Süden, nahmen keck und frech von der Gasse Besitz und machten daraus Beisl im mediterranen Stil. An Hilfen und Lizenzen fehlt es nicht, zielstrebig gelenkt von kommunalen Bertoldis; solches bleibt den Unseren leider verwehrt. So vermochten nur wenige ihren Platz zu behalten, kamen gegen die Gunst der Fremden nicht auf. Die achtbare Streitergasse haben sie entstellt und die Budel verdreifacht, der Gast von einst sucht vergebens ihr Gesicht. Neue drängen in die heimischen Gassen und besetzen, was einstens unser war. Eine gesellige Einkehr in der Altstadt ist schwer. Wo bleibt noch Platz, den Menschen zu begegnen und in Kurzweil Ruhe zu finden? Ob Vigl, Fink oder Forst, fremde Laute, welsch und schrill, die alles übertönen. Bozen nimmt Abschied von dem, was es war, eine frohe Stadt, die unser war.“
Dr. Hans Bachmann, Leserbrief an die Tageszeitung „Dolomiten“, Mai 2003

Seine Freunde nennen ihn Johnny, den Sänger des Schwanengesangs auf eine Gasse in der Altstadt von Bozen: Dr. Hans Bachmann ist ein sonniges, unbeschwertes Gemüt, trinkt gern einen, gibt gern einen aus, grüßt jeden, galt lange als umschwärmt vom anderen Geschlecht, hat sich die Eleganz eines Umschwärmten ins ergrauende Alter bewahrt und in diesem immerhin noch die Holdeste Tirols erobert. „Mein Hons“, nennt ihn seine Eva, Tochter von Jörg Klotz, einem der Helden des Südtiroler Autonomiekampfes der 60-er Jahre: Kriegsheimkehrer, Schützenmajor, Attentäter. Mit seinen desperaten Feuerüberfällen auf Militärposten an der italienisch-österreichischen Grenze, die den Staat Italien oder wenigstens seine Zuwanderer zum Rückzug aus Südtirol zwingen sollten, mit dem überlebten Mordanschlag eines gedungenen Killers und Verräters, mit dem einsamen Dahinsiechen in Wiener Verbannung hat Jörg Klotz Tiroler Heimatgeschichte geschrieben. Die Klotz-Saga ist ein Schlüssel zum Südtiroler Heimat-Mythos: Lichtgestalten treten gegen das Böse an, führen einen edlen, aber verlorenen Kampf des Reinen gegen das Verdorbene, fallen dem Verrat lichtscheuer Weggefährten anheim, werden verlassen von Gott, Kaiser und Vaterland.

Wie Thomas Mann in „Josef und seine Brüder“ immer neue Abrahams und Jakobs über immer dieselben mythischen Himmelsleitern klettern lässt, kehrt dieser Mythos in der Tiroler Geschichte wieder. Dem Herrgott, mit dem das Land Tirol gegen seine Feinde einen Bund geschlossen hat, erging es dereinst so, Andreas Hofer erging es so: aufgestanden gen Napoleon, nach der dritten Schlacht verlassen vom Kaiser in Wien, ausgeliefert dem Tode von Raffl, den wir „Judas von Tirol“ nennen, zu Mantua gefallen und geläutert unter den Kugeln eines schlecht schießenden Exekutionskommandos. Jörg Klotz erging es so: Sein Freund Luis Amplatz wurde neben ihm im Schlaf erschossen, ein neuer Andreas Hofer, hieß es, Klotz rettete sich mit einem Lungenschuss in die Heimatlosigkeit des Exils. Als er starb, war auch er ein Held. Der Tiroler Heimat-Mythos ist ein Jenseits-Mythos: Die Heimat ist das verlorene Paradies. Eine Vergangenheitsheimat, die vertan ist und über die nichtsnutze Gegenwart hinweg in eine Erlösungsheimat projiziert wird. Dort ist alles besser. Dort ist Tirol frei. Dort lässt es sich wieder leben. Dort gibt es bestimmt eine Streitergasse nur mit deutschen Beisln.

Dr. Hans Bachmann ist kein böser Mensch, er ist ein netter Mensch, obwohl sein Leserbrief böse ist, seine Sprache in ihrer Liebenswürdigkeit böse ist, seine versonnene Gedankenwelt, sobald sie papieren wird, böse ist. Sein Leserbrief beginnt mit einem Einleitungssatz von der „Dr.-Streiter-Gasse im Schoße der Altstadt ...“ Das ist jene Sprache, die im Auftreten anderer, fremder Menschen ein Eindringen in die Reinheit des Weibes und der eigenen Art erblickt. „Welsch“ heißt nicht italienisch, „welsch“ heißt fremd, anders: Die gute alte Zeit, als man unter sich war, ist gegangen, jetzt kommen die Fremden, „keck und frech“. Ihnen wird gegeben, was den anderen verwehrt wurde – Lizenzen, Hilfen, auch Geld ist da suggeriert. Es wäre nicht schwer Vergleiche zu damals anzustellen, als in derselben Sprache, mit denselben Verschwörungsformeln Menschen zu Sündenböcken, zu Nutznießern und Nichtsnutzen wurden, die es auszumerzen galt. Die Neuen „drängen“, sind „schrill“, „übertönen“ alles – eine welsche anonyme Samenflut ergießt sich da über Bozens Altstadt, in den Schoß des deutschen, entehrten, vergewaltigten Südtirol. Hans Bachmann schreibt, anno domini 2003, im Tonfall einer Liebeshymne eine Hetzschrift gegen das Leben, wie es ist.

In Südtirol heißt das: 450.000 Einwohner und drei amtlich anerkannte Sprachgruppen teilen sich eine zwischen Österreich und Italien hin- und hergezerrte Heimat, winzige 7.400 Quadratkilometer mitten in Europa, von denen 65 Prozent über 1500 Meter Meereshöhe liegen, der südliche Appendix Tirols und Altösterreichs südlich des Brenners, seit 1918 die nördlichste Provinz Italiens, eingebettet in knackige Naturlandschaft, von den Palmen in Meran zum Schnee an den Gletschern. Rund 310.000 Südtiroler sind deutscher, knapp 20.000 ladinischer Muttersprache, vereint von Fluch und Privileg, sich als angestammte ethnische Minderheit im Staat Italien behaupten zu müssen. Die 120.000 Italiener in Südtirol leben mit dem Komplex, dass sie wohl das Recht der staatlichen Souveränität auf ihrer Seite haben, innerhalb der mittlerweile stattlich ausgebauten Landesautonomie aber in der Minderheit sind. Von einer Beheimatung, die auf das schwindende Recht des Stärkeren verzichten könnte, sind sie durch Geschichte, durch die Schuld der Eroberer und die Minderwertigkeitsgefühle der Zugewanderten getrennt.

Schon wieder eine Verratsgeschichte: Italien war vor dem 1. Weltkrieg Bündnispartner Österreichs, freilich halbherzig und nur für den Verteidigungsfall, was es so wörtlich auszulegen wusste, dass es nach Österreichs Kriegserklärung mit dem Feind verhandelte, sich im Londoner Geheimvertrag Südtirol als Kriegsprämie einhandelte und durch fliegenden Seitenwechsel vom Bündnispartner zum Kriegsgewinner wurde. Seitdem beharrt es auf die „Eroberung“, die für die Südtiroler keine war: Standschützen verteidigten das Land in einem verbissenen Stellungskrieg, verbluteten, verhungerten, erfroren an der Gebirgsfront, gaben keinen Meter Preis – und mussten nach dem Waffenstillstand des Kaisers hinnehmen, dass die italienischen Truppen kampflos und jubelnd in Bozen einzogen.

Binnen weniger Jahre entstand von Süden her eine neue Stadt, Straßenzug um Straßenzug wurde für die neuen Arbeiterviertel hochgezogen, mit Namen italienischer Städte und Feldherren, mündend in die Freiheitsstraße, im kühlen, kühnen Rationalismus der Zeit gebaut, gekrönt an ihrem oberen Ende vom monumentalen Siegesplatz mit Denkmal. Italien nahm, symbolisch und faktisch, Besitz von Südtirol: Vor dem Anschluss an Italien lebten rund 20.000 Italiener in Südtirol, binnen weniger Jahrzehnte waren es über 120.000. Sie verließen ihre Heimatprovinzen, wo es keine Arbeit, keine Zukunft gab und folgten dem Ruf nach Südtirol, wo Mussolini ihnen Arbeit und Zukunft bot, Geköderte eines massiven Entnationalisierungsprogramms, auf der Suche nach Heimat andere in ihrer Heimat bedrängend. Dem faschistischen Italien genügte es nicht, Südtirol zu besitzen, es musste es sich gleich machen – Assimilieren ist für viele Südtiroler ein konkret erlebtes Wort.

Fast die Hälfte der Südtiroler Italiener lebt in Bozen, stellt die Mehrheit in der Landeshauptstadt, aber erleidet die Ohnmacht, dass die Landesmehrheit deutsch ist und das Innerste ihrer Stadt ihnen verwehrt blieb: Hier wohnen die Deutschen, die einflussreichen Patrizier, die Handelsherren. Die Italiener lagern außerhalb. Die Talfer, der sprudelnde, schnellende Bach aus dem Sarntal, trennt Deutsch- und Welschbozen: Diesseits die Altstadt, jenseits das Siegesdenkmal, dazwischen der Fluss. Die Wiesen an beiden Ufern wurden von den italienischen Gebirgsjägern begrünt, den Alpini, deren Helden sich im Ersten Weltkrieg die verzweifelten, erbitterten, für beide Seiten aussichtslosen Kämpfe mit Standschützen und Kaiserjägern lieferten; aus Respekt und als Friedensgeste deponieren sie ihre Kränze nicht mehr vor dem Siegesdenkmal. Wenigstens über diese Wunden könnte Gras wachsen.

Am ehesten begegnen sich hier – auf den Spielplätzen, auf den Sportplätzen, auf der Skateboardbahn – die Südtiroler Welten. Zugleich stoßen sie sich ab. Wer an der Talferbrücke steht und zum Siegesdenkmal schaut, hat im Rücken die Erkerfassaden und zinnenbewehrten Dächer der Altstadt vor einem fantastischen, in den Himmel gemalten Kitschbild, dem abendlich erglühenden Rosengarten – der letzten Fluchtburg des ladinischen Zwergenkönig Laurins, nicht nur der Sage nach niedergerungen vom deutschen Dietrich. Vor einem weitet sich hinter dem monumentalen Denkmal die faschistische Prachtstraße zum Mazziniplatz aus, gegen das Etschtal hin liegt das ehemalige Bauerndorf Gries, jetzt ein selbstbewusster, überwiegend deutsch gebliebener Stadtteil, im Süden verschwimmen im Dunst der Vorstadt die italienischen Viertel: Mailand-, Florenz- und Palermo-Straße, die Hochhäuserfluchten des Europaviertels und der Drususallee. Zum Eisackufer hin duckten sich früher die Hütten der ehemaligen Semi-Rurali-Zone, die Mussolini für seine Arbeiter errichten ließ.

Im historischen Gedächtnis der Südtiroler ist jedes Haus hier eine Wunde. Die Obstwiesen wurden den Bauern zum Spottpreis enteignet und, was viele am meisten schmerzte, kurz vor der Ernte gerodet. Der jungen Bauer Luis Amplatz war durch die Enteignungen zum Tagelöhner geworden, suchte vergeblich Arbeit in den neuen Fabriken und begann Strommasten und Rohbauten für Zuwanderer zu sprengen. Die Überlandleitung für die Industriezone führte dicht an seinem Haus vorbei, ein Masten ragte vor dem Balkon von Luis Amplatz hoch. Die Stromleitung wurde später den neuen Siedlungen zuliebe unterirdisch verlegt, die Masten des Anstoßes sind aus dem Stadtbild verschwunden – bis auf einen: jener vor dem ehemaligen Haus von Luis Amplatz dicht am Ufer des Eisacks, über den die Leitung weiterhin oberirdisch verläuft.

Jetzt wohnt hier der „Disagio“, mit dem die Heimatlosigkeit der Italiener in Südtirol umschrieben wird. Bis auf ein Schaustück sind die Semirurali-Hütten abgerissen, schmucke Viertel mit neuen Plätzen bilden sich, noch steril, künstlich in die ehemaligen Obstwiesen geplant, abgelegen vom historischen Kern der Stadt, aber da und dort schon Heimat bietend an einem Fußballplatz, auf breiten Gehsteigen, unter einem an der Kirchenmauer montierten Korbballnetz. Eine andere Stadt, eine andere Welt, pulsierend, dort wo sie sich gefunden hat, mit Läden wie „il Siciliano“, mit den „veci“, den Alten, die an einer Bocciabahn philosophieren, mit den Jungen, die mit ihren Motorini heulend die Mädchen umkreisen, mit linken Kulturzirkeln, die den Arbeitern Heimat gaben. Den Namen Shanghai, den diese Viertel von den deutschen Südtirolern bekommen haben, verdienen sie nicht mehr; eine umfangreiche Studie zur Lebensqualität in Bozen (2004) bescheinigt der Gegend aber immer noch Nachteile gegenüber dem besseren, deutschen Bozen. Hier zu leben – was immer häufiger auch für deutsche Familien die einzige Chance auf eine erschwingliche Heimat darstellt – ist zweite, dritte Wahl. Erste Wahl sind die Bauernhöfe in Gries, sind die Villen und Bürgerhäuser in der Altstadt mit dem Waltherplatz, den Giebel- und Türmchenfassaden am Obstmarkt, den Lauben, der Museums- und der Sparkassestraße. Bozens Herzeigeorte sind noch so, wie sie Dr. Hans Bachmann wünscht: exklusiv und ziemlich deutsch.

Die Dr.-Streiter-Gasse beginnt am oberen Ende des Obstmarktes und verläuft parallel zur Laubengasse hinunter zur Bindergasse. 291 Heimatmeter, keine gerade Gasse, keine besonders enge Gasse, nur zum Obstmarkt hin malerisch verwinkelt, danach sachlich und breitschultrig. Den Namen verdankt sie Dr. Josef Streiter (1804-1873), einem der wichtigsten, wenigen und wunderlichsten Vertreter des Liberalismus in Tirol: Sohn einer Kaufherrenfamilie, studierte Jura in Padova, praktizierte im welschen Cavalese, kehrte nach Bozen zurück und war den betuchten Boznern ihr Anwalt, 1861 wurde er Bürgermeister. Zu seinem Amtsantritt führte er die Gasbeleuchtung ein – und spielte gleich offen wie hoffnungsvoll – darauf an, dass damit die Aufklärung einziehen möge und die Finsternis vertrieben werde. Zur Feier gab es ein „Lichtfest“, das er bewusst auf den 10. November fallen ließ – den Geburtstag von Martin Luther und Friedrich Schiller. Unter seinem bürgerlichen Namen schrieb er liberale Streitschriften („Freies Wort eines Tirolers“), unter dem Pseudonym Ivo Berengarius verfasste er Dramen, Gedichte, Mysterienspiele.

Die liberalen Patrizier Bozens hielten nach 1848 ein Kerzlein der Liberalität hoch im Bauern- und Pfaffenland, verteidigten im „Kulturkampf“ die Wiener Reformen gegen den empörten Tiroler Widerstand, waren zwar schon ein bisschen, aber noch nicht verbissen deutschnational. Tirol ist zu dieser Zeit ein Land mit lebendigem Meinungsstreit zwischen meist vorherrschenden Konservativen, selbstbewussten Liberalen, eher im Eck stehenden Sozialdemokraten, die großen geistigen Grundströmungen Europas bestimmen die lokale Politik mehr als das Gegeneinander zweier Sprachgruppen, eine vielfältig und bunt austreibende Medienlandschaft widerspiegelt den gesellschaftlichen Diskurs. Erst als die Ideologie des Nationalstaates die Einheit von Sprache und Staat zur Maxime machte, kippte das südliche Tirol, kippte auch Bozen in antiitalienischen Nationalismus, kippte das Trentino in österreichfeindlichen Irredentismus. Plötzlich galt es die Heimat von Nachbarn zu befreien, gegen Nachbarn zu verteidigen, mit denen jahrhundertealte Geschichte verband: 1809 verbluteten nicht nur Passeirer und Landecker Schützen für Andreas Hofer im Aufstand gegen Napeoleon, sondern auch die Schützen in Welschtirol. Der Kampf für ein freies, italienisches Trentino schnürte dort dem nationalitätenübergreifenden Tiroler Zusammengehörigkeitsgefühl die Luft ab; dem italienischen Nationalwahn fehlte der kleine deutsche Fleck südlich des Brenners zur Abrundung seines Vollständigkeitsgefühls von Sizilien bis zum Alpenhauptkamm. Dem schwer amputierten Österreich stach nach dem Krieg der Verlust Südtirols als nachhaltigster Phantomschmerz in den nationalen Stolz. Im „abgetrennten“ Land ließ der Kampf um das Fortbestehen der deutschen und ladinischen Minderheit die politische Vielfalt verdorren, führte zu einem Gruppen- und Einheitsdruck: ein Volk, eine Partei, eine Zeitung. Das liberale Bürgertum verlor in den härtesten Phasen des Überlebenskampfes seine Führungsrolle, geriet ins Abseits der benasrümpften und naserümpfenden Pfeffersäcke.

Die Altstadt, die Dr. Hans Bachmann der Schoß Alt- und Deutschtirols ist, war dem Namensgeber der Streitergasse eher Ort übertriebener Selbstbeschauung. Dr. Josef Streiter, wiewohl Bürgermeister mit Amtssitz im alten Rathaus in einem Durchgang zwischen den Lauben und der späteren Streitergasse, nahm Abstand vom Gehabe der Patrizier, in den alten, kalten Mauern der Altstadt wohnen zu wollen, zog hinauf auf den Oswaldweg, der damals noch Weinberg war. Inzwischen ist der Oswaldweg Bozens teuerste und vornehmste Wohngegend, an deren nördlichen Ausläufer auch Dr. Hans Bachmann wohnt. Die lang verwahrloste, fast dem Verfall preisgegebene Altstadt ist eine neu entdeckte Prime-Rate-Heimat. Wo zu ebener Erde die Kaufleute hinter ihren Ladentischen residierten, hauste vom ersten Stock aufwärts das Elend. Lange lebten in Bozens nobelster Geschäftsmeile fast nur Ausländer, Studenten und Habenichtse, Verputz bröckelte ins Treppenhaus, die Wohnungen hatten Stockklos, in den Fensterritzen nisteten die Motten, das Licht war scheu. Jetzt wird Haus um Haus restauriert, die Bewohner wechseln unten wie oben: Wohnungsmieten von 800 Euro aufwärts, gegen 1000 und 1500 drängend, machen aus wenigen Straßenzügen rund um die Lauben eine exklusive Heimat, während die Geschäfte im Parterre im Ausverkauf stehen. Weil ein Standort dort so teuer ist, gerät die superbe Zone nicht von deutscher in italienische, sondern von heimischer in globale Hand – aus dem Wahrzeichen der alten Handelsstadt Bozen wurde eine Allerweltseinkaufsstraße, Umschlagplatz für Benetton- und Sisley-Ware. Die Laubenkönige verkaufen oder verpachten ihre Laubenhäuser an internationale Handelsketten, die jeden Preis zu zahlen imstande sind, und ziehen sich selbst in billigere Breitengrade zurück. Zum Beispiel in die Streitergasse.

2003, als Johnny alias Dr. Hans Bachmann seinen Leserbrief schrieb, war ich mit meiner Familie gerade erst in diese Gasse gezogen, vorübergehend nur, aber Heimatgefühle entstehen schnell an so einem Ort. Wo Dr. Hans Bachmann, der gar nicht hier wohnt, sich um seine Heimat gebracht sah, fühlten wir uns aufgenommen: In der Früh wird man vom Scheppern der Müllabfuhr geweckt, der Blick über den Obstmarkt erlaubt ein Erwachen in Zeitlupe – Ladengitter rattern hoch, aus gestapelten Kisten werden Stillleben aus leuchtendem Obst und hängendem Knoblauch komponiert, die Gasse färbt sich zum Aquarell, es wird geflucht, viel gelacht; das Licht fällt weich in die Gasse, und wer wie wir von einer Außentreppe in die Gosse steigen darf, lebt über dem Leben: Manchmal trödelt es unter einem dahin, manchmal plätschert und plänkelt Verliebtheit vorbei, dann wieder schiebt das Christkindlmarkt-Volk wie ein Fluss durch die Gasse, sodass man kaum aus dem Haus hinaus kommt, während sich von unten die Fotoobjektive gegen die Hinaustretenden richten: Am Erker neben unserem Eingang prangt ein Fresko.

Mit dem Aufschwung der Altstadt hat sich auch die Gasse gewandelt. Der in immer neuen Schichten und Fleckerln ausgebesserte Asphaltbelag aus einer wenig wertbewussten Zeit wurde abgetragen, es war der Belag für eine Straße zweiter Kategorie. Italienische Maurer pflasterten die Gasse nach Altbozner Art vom Anfang bis zum Ende mit schönem Porphyr, gebeugten Rückens klopften sie in der Sommerschwüle Südtiroler Heimatboden, spuckten abends ihren Stolz über den Bodengewinn auf den Pflaster,  zogen in der Mitte mit phosphoreszierenden Glasquadern eine Leuchtspur, die bei Nacht den Wankenden heimleuchtet. Der Pflasterstein markiert die Erhebung der Streitergasse in den Stand einer Altstadtgasse, die Aufnahme der Hinterhofgasse in Dr. Hans Bachmanns Schoß der Altstadt.

Einer der prestigereichsten Kaufleute zog als erster von den Lauben in diese zweite Reihe um, eröffnete dort bald sein zweites Geschäft. Von den meisten Laubenhäusern ragte früher nur der hässliche Lieferanteneingang nach hinten in die Streitergasse, der minderen Schwester der Lauben. Jetzt weiten sich die Hinterausgänge, wölben sich die Schauläden, werden zu Geschäften und Goldgruben. Ein neuer Kampf um Heimat beginnt. Meter für Meter verbarrikadieren die Kaufleute den Platz vor ihren Läden mit Blumentöpfen, umstellen ihre Schaufenster, rauben den Anwohnern den Parkplatz. Gibt es ein drastischeres Gefühl von Heimatlosigkeit im postmodernen Zeitalter als keinen Platz zu haben, wo man sein Auto abstellen kann? Selbst für einen Radlabstellplatz bettelten wir von Tür zu Tür, bis uns ausgerechnet ein für Geschäftssinn und politische Umtriebigkeit bekannter Handelsmann Asyl in einem Innenhof bot. Die Schlüssel dazu waren wie eine Aufnahme in die Altstadt: wir waren daheim.

Eine Kauffrau vom Kornplatz hatte fast ein Arbeitsleben lang gekämpft, um sich für ihren Sohn einen Platz unter den Lauben zu sichern – es schien ihr das Eintrittsbillett in eine teure, mit Geld gepflasterte Heimat. Das neue Geschäft war solchem Anspruch gemäß zu teuer ausgefallen, den Sohn erdrückte der Anspruch, das Geschäft ging ein und Frau D. konnte sich gerade noch einen kleinen Laden in der Streitergasse leisten, mit dem Nischenprodukt „Mode für große Größen“. Wohl weil der Wert der Gasse mittlerweile solchen Handel überstieg, klagte sie der Hausherr hinaus: tagelang schritt er mit Langfilterzigarette in der einen Hand, Hund an der anderen Hand die paar Quadratmeter Gasse auf und ab, überklebte eigenhändig das Schaufenster, machte Druck für die Zwangsräumung. Nicht Fremde gegen Einheimische, Deutschbozner gegen Deutschboznerin, Heimathabender gegen Heimatsuchende. Wenige Tage später eröffnete er in einer Garage gegenüber sein drittes oder viertes Geschäft, kümmerte sich liebevoll um jedes Detail, stellte natürlich auch ein paar Blumentöpfe gegen parkende Einwohner hin. Frau D. zog eine Gasse weiter, eröffnete noch einmal einen Laden. Das ist das Kreuz der Haben-Heimat: Wer Heimat hat, braucht eine zweite, dritte, vierte, wer keine hat, hört mit dem Suchen der ersten nicht auf.

Die Streiter-Gasse ist eine Durchzugsheimat, durch die das Leben strömt. Bleibe, Heimat findet es dort, wo große Steine den Flusslauf bremsen hemmen und Schutz bieten – an den Beisln, deren Verwelschung Dr. Hans Bachmann beklagt, wobei in Südtirol kein Mensch Beisl sagt. Man sagt Bar, Cafè, Lokal. An den Lokalen, im Sommer auf Tischchen und auf den Gehsteigen davor, im Sommer hinter angelaufenen Scheiben, steht, staut sich das Leben, sonst zieht es durch, zieht die Läden entlang, sucht Orte und Wohnungen auf. Die Gasse hat wenig eigenes Leben, viel geliehenes, durchziehendes: Wer in die Stadt will, wer zu den Lokalen will, wer aus der Stadt hinaus will. Keine Kinder, die mit Kreide ihre Quadrate zum Tempelhupfen auf die Straße zeichnen oder gegen eine Mauer Fußball spielen, keine Alten, die auf der Bank sitzen und Tauben füttern – das Leben hat sich aus der Gasse zurückgezogen, in die Wohnungen, die durch lange Gänge oft bis zu den Lauben reichen, auf Dachterrassen, die einen bizarren Blick über die Stadt bieten, trifft sich in Aufzügen, wo sich Nachbarn eilig grüßen. Oft ist der Nachbar ein Geschäft, drücken sich stumm Angestellte vorbei, drückt sich ein ausländischer Bodenwischer gegen die Wand. Mancher Hinterhof eines Kondominiums in der Sassaristraße, wie staubig und unansehnlich die Gegend auch ist, bietet mehr Bleibe als diese vom Leben dem Geschäft geräumte Ausstellungsheimat.

Andererseits: die alte Frau, die sich täglich um dieselbe Uhrzeit, wenn ich die Kinder zum Kindergarten ziehe, durch die Franziskanergasse kämpft, die eine Seite auf den Stock gestützt, die andere an der Klostermauer streifend, damit sie Halt findet; das Brotholen in der Franziskanerbäckerei um die Ecke, unrasiert, in Schlappen, im Winter das Pyjama unter dem Mantel versteckt, die durchradelnden Mütter, deren Kindern meinen Kindern zuwinken, weil sie auch zur Bärengruppe im Kindergarten gehören, die Leute in den Lokalen, unter denen immer ein paar sind, die man kennt. Eine Heimat, durch die das Leben zieht, ist keine stehende Heimat. Ein ganzes Schülerleben, ein halbes Arbeitsleben lang bin ich täglich mit dem Zug vom Dorf in die Stadt gependelt und eine meiner Heimaten war dort – am Bahnsteig warten, rauchen, später kalten Atem in die Landschaft blasen, langsam erwachen, aus dem Fenster schauen, immer dieselben Bahnwärterhäuschen, dieselben Schupfen, dieselben Querstraßen passierend, sich am Bozner Bahnhof von drängenden Massen in die Stadt und in den Tag schieben lassen. Gewohnt habe ich in A, gearbeitet in B, beides war Heimat, aber Heimat war auch das Pendeln von A nach B. Vielleicht vermisse ich es am meisten.

Als wir nach Bozen in die Streitergasse zogen, war die Gasse ein Stück Neapel: Der Müll quoll über, hob die Deckel der Mülltonnen, sickerte in Rinnsalen über den  brüchigen Asphalt, türmte sich zu Halden auf. Bozen hat die fleißigste Müllabfuhr der Welt und einen tüchtigen Verbrennungsofen, aber hier kam die Entsorgungstechnik nicht nach. Der erste, der protestierte, war ein italienischer Händler, der sich gerade einen kleinen Orient-Laden in einem Kellerverlies ausgebaut hatte – er protestierte dagegen, dass eine ordentliche deutsche Stadt schlimmer als Neapel sei. Hansele dagegen, nicht zu verwechseln mit Dr. Hans, freute sich. Er ist einer der Penner der Stadt, die nebenan in der Franziskanergasse bei Pater Markus anstanden um eine Suppe, etwas Geld und einen Tritt in den Hintern, wenn sie frech wurden. Eine kleine Gemeinde, Heimatlose im Heimatland, scheu am Gassenrand aufgereiht, nur und ab und zu wankt einer vor und pumpt Passanten an; jede kleine Cent-Hostie wird am Supermarkt unten beim Obstmarkt zu Billigwein gewandelt, mit der sich das Völklein in den nahen Schulpark verzieht, dort für permanenten Elternprotest mit begleitendem Leserbriefecho im Lokalblatt sorgend. Sich nur helfen zu lassen, dazu war Hansele zu stolz, er baute ein Wiederverwertungsunternehmen auf, spezialisierte sich auf das Durchsuchen und Ausbeuten von Müllcontainern. In der Früh um sechs, wenn ich früher zur Arbeit ging, erschrak ich anfangs: Plötzlich klappte der Deckel der Mülltonne hoch und Hansele stieg daraus hervor wie Diogenes aus der Tonne, unbeirrt von jeder Störung sein Licht suchend – breitete das Nutzbare auf Kartonen aus, faltete diese kunstvoll zusammen und ging davon, nicht ohne das Nutzlose fein säuberlich wieder zurück in die Tonne gesteckt zu haben.

Jetzt, da die Gasse zum Schaufenster der Stadt gehört, sind die Mülltonnen verschwunden, per Verordnung hinter die Haustüren gesperrt oder schwer mit Schlössern verhängt. Hansele ist in ergiebigere Gegenden gezogen. Man sagt, dass er einigermaßen gut lebt von seinem Business und dass er, als Pater Markus in die Klinik und nach einem Jahr Zehren ins Grab kam, nicht zu den Geschädigten zählte: Er hat sich selbständig gemacht. In Südtirol ist das – wie überall wohl –  eine spezifische Qualität von Heimat. Die Haben-Heimat.

Gegenüber unserer Wohnung, oberes Ende der Streitergasse, finden kundige Bozen-Besucher mit Baedeker in der Hand im Winter die Fischbänke, im Sommer fallen sie hinein. Es sind steinerne Tischplatten, auf denen früher Fische gehandelt wurden und jetzt Cobo seine Bruschette anbietet: wine garden, bar, ristoro nennt er auf einem Ladenschild aus Holz sein grün-überwachsenes Refugium des feinen Knoblauchgeruchs und des frischen Weines, ein Italiener, dessen bürgerlichen Namen niemand mehr kennt, weil sein Geschäfts- und Künstlername Cobo ist. Cobo malt die Stadt auf naiven Postkarten, mit Tauben und Menschen, die einen Schurz um ihr Bäuchlein gewickelt haben. Eine deutsche Stadt? Eine italienische Stadt? Eine kitschige Stadt, die menschlich wird, wenn sie sich nicht zu ernst nimmt. In einer low-budget-TV-Serie, mit Handkamera gefilmt, führte Cobo chaotisch gestikulierend, mit Handbussis um sich werfend durch Altbozen, kundiger, als so mancher Deutschbozner es wüsste. Einen Steinwurf von seiner Bruschetteria entfernt liegt der Friseurladen des Gaetano Sessa, geführt mittlerweile von seiner deutschen Frau, den zweisprachigen Kindern. Der alte Sessa ist Italiener. Er hat Altbozen mit einer Sammlung vergilbter Ansichtskarten ein melancholisches Denkmal gesetzt.

Die Dr.-Streiter-Gasse ist keine zierliche Gasse, keine Zuckerpuppenwelt, sie hat Charakter. Ein paar Meter unter den Fischbänken, geborgen unter einem zierlichen Doppelbogen, der die Gasse wie eine Klammer zusammenhält, ist vor ein paar Jahren eine Heimatecke entstanden, sehr gegenwärtig, wenig vergangenheitsbeladen, es sei denn in alten Liebesgeschichten kramend, tief im Glas nach dem Sinn des Lebens forschend: die Sonderbar. Sonderbare Gaststätte, Taubenschlag für Spätheimkehrer, Einsame, Verirrte, Verstörte, Verwegene. Immer neue Heimatsuchende spülte es da ans Land, die rasch in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. Eine Zeitlang beherrschten die Robespierres einer aufständischen, revolutionären Kleintageszeitung das Lokal, für ihre immer neu aus Deutschland angeworbenen Söldner wurde die Sonderbar zum Ankerplatz, eine kleine altkatholische Gemeinde nistete sich ein (landesweit bringt sie es vielleicht auf zehn Glaubensangehörige gegenüber 450.000 Katholiken, deren Ahnen den ekligen Nachsaft beim Schnapsbrennen „Luther“ tauften, Hexen mordeten, Juden verfolgten, die Hutterer aus dem Land jagten), dazu mancher Seelensucher. Hinter dem Budel stand Luzy und hatte Verständnis für alle, die kamen, Hauptsache, sie führten sich auf und zahlten die Zeche. Gibt es eine wärmere, wärmendere Heimat als solch einen Platz, wo man jeden Schluck Wein wieder ausweinen kann?

Trotz solcher Aufgeschlossenheit des Herzens war das Sonderbar-Publikum fast ausschließlich deutscher Zunge, wiewohl kein besonders deutscher Geist herrschte in der Bar. Gegenüber liegt ein Lokal von vorgetäuschter tirolischer Rustikalität, „Zum Bogen“, geführt von italienischen Pächtern und einem gemischten Publikum aus Sarner Cowboys, die das Stadtleben suchen, aus Italienern, die aus den italienischen Vierteln ins Zentrum kommen, um dazuzugehören zu einer Welt, die ihnen sonst verschlossen ist. Dahinter das Assenzio, dem Absinth-Gesöff geweiht, das Van-Gogh närrisch werden ließ. Hierher verirrt sich, obwohl nur 30 Meter von der Sonderbar entfernt und ähnlich „szenig“, kaum ein Deutscher. Italienische Jugend aus den Randvierteln strömt in die Gasse, stellt Leichtmotorräder ab, schiebt sich Sonnenbrillen auf die Stirn, streicht gebügelte Armani-Jeans glatt. An der Theke wehrt der Wirt der Wut auf Krieg und Amis: wie in der Sonderbar. Gleiche Themen, gleiche Empörung, gleiche Verzweiflung, gleiche Trostsuche im nächsten Glas, nur in einer anderen Sprache. Und zwischen den Sprachen keine Berührung. Oder fast keine.

Als die Sonderbar im Frühjahr 2004 Pächterin wechselte, eine Italienerin, die deutsch spricht, blieb viel vom schrägen Publikum aus, auch weil die Bar früher schließt und am Morgen dem inbrünstigen Disput italienischer Frauen Raum bietet, wer nun mehr arbeite und die entsetzlicheren Kinder habe. Heimat wurde freigegeben, Heimat wurde neu besetzt, mit unerschütterlichen Treuen, die sich ihre Sonderbar nicht nehmen ließen. In den Frühstückscafès, in den Imbissstuben sind die Übergänge, ist die Kundschaft traditionell fließend. Im Cafè Seltz an der Seitengasse zum alten Rathaus schlägt sich die Wirtin an den Kopf, weil die italienische Fußballmannschaft aus der EM hinausgeflogen ist. Auf der anderen Seite der Gasse liegt die Osteria „Dai Carrettai – Kårrner – Al cïar“, dreisprachig für Karrenzieher, eine Bottega fürs schnelle Mittagessen der Anwälte und Geschäftsleute und Bankangestellten und Verkäuferinnen der Altstadt. Die Kårrner im Vinschgau waren so etwas wie die Zigeuner Tirols, gleich verschrieen, gleich verfolgt, gleich stolz den Wagen weiterziehend ins nächste Dorf: die Heimat im Weiterziehen findend und im Stolz darauf, nie bleiben zu wollen – geh weiter, påck dein Glump! Eine Sein-Heimat? Oder nur ein rastloses Suchen nach Haben-Heimat?

Hinter einem zweiten Doppelbogen, dieser da wuchtig die Fassaden spreizend, holt die Streitergasse Luft, weitet sich zur Mitte hin, wechselt vom Beisl-Ambiente zu tätiger Nüchternheit. Das Handwerk verschwindet zwar aus der Gasse, in unserem Haus, 1268 erbaut, war ursprünglich eine Goldschmiedewerkstatt, zuletzt stachen sich in unserem Wohnzimmer die Näherinnen eines darunterliegenden Konfektionsgeschäftes die Finger wund. Ein Taschenmacher und ein Schuhmacher am unteren Ende der Gasse sind die letzten Exemplare ihres aussterbenden Gewerbes. Das neue Business reiht sich Tür an Tür: eine Südtiroler Anlagevermittlung, eine italienische Bankniederlassung, die österreichische „Austrolease“, daneben das schlichte, elegante Schild eines Anwaltbüros, die Kanzlei Dr. Gerhard Brandstätter. Eine Stätte der Macht und ein Symbol dafür, wie Südtirol in Südtiroler Hand ist: Brandstätter ist Sohn des ehemaligen Sparkassepräsidenten, wurde 2003 selbst Präsident der Sparkassestiftung mit unmittelbarer Aussicht auf die Bankpräsidentschaft, ist Präsident des Wirtschaftsausschusses der Südtiroler Volkspartei, die im Land die absolute Mehrheit und unter den Deutschen und Ladinern 80 Prozent hält, ist Berater der wichtigsten Südtiroler Unternehmen und Seilschaften, ist Anwalt des Landeshauptmannes in Ehedingen, ist Anwalt von SVP-Politikern in Affärendingen, ist Aktivist in Sportvereinen, ist Generalkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Südtirol. Die Kanzlei ist eine Zentrale der Südtiroler Treibhausautonomie, der im Autonomiekampf der 60er Jahre errungenen Selbstverwaltung: Da mausert sich ein kleines Land zur staatlichen Miniatur, bildet Filzokratie und Feudalfürstentum, inszeniert auf kleinstem Raum, mit zu wenig Personal und fast ohne Publikum eine meist fröhliche Staatsoperette. Die Radiomacht RMI, die das Nachrichtenprogramm für fast alle Privatsender Südtirols produziert und deren Besitzer überdies die zwei stärksten Privatradios im Land kontrollieren, hat übrigens auch ihren Sitz in der Streitergasse.

Ein anderes Symbol dafür, wie Südtirol zu seinem Recht gekommen ist, liegt ebenfalls in dieser Gasse: der Filmclub. Früher ein Hinterhofkino, gegründet von eingefleischten Filmfreaks, die zunächst einmal nur Winnetou und Old Shatterhand in deutscher Sprache reiten sehen wollten. Die ersten deutschen Streifen wurden ins Land geschmuggelt, so wie in den 60er Jahren die ersten ZDF- und ORF-Sendungen mittels illegaler Umsetzer ins Land gestrahlt wurden, bis die Berieselung legal wurde und Südtirol eine deutsch-österreichische Multivision-Fernsehserienheimat erhielt, jetzt beinahe schon wieder angenehmes virtuelles Asyl vom Berlusconi-Äther (Tatort ist ein linksfortschrittliches Aufklärungsprogramm im Vergleich zur Botschaft in den gleichgeschalteten Media-Set-Sendern: Bürger, sei brav und bewundere deinen Herrn). Tür an Tür zum Filmclub lag Bozens eigentliche Filmadresse, das italienische Capitol, dem Clubkino lange an Publikumserfolg voraus. Nun hat der Filmclub mit Landesunterstützung das Capitol aufgekauft und ist Südtirols eigentliches, öffentlich subventioniertes Mulitplex, die Bozner Filmtage sind ein Aufbäumen der Provinz gegen die Provinz. Die Filme werden (meist) nach Qualität ausgewählt, nicht nach Sprache, aber trotzdem: Gute Filme gibt es jetzt oft zuerst in der deutschen Version, die Italiener dürfen als Gäste ins Kino, sind aber im Club nicht vertreten; sie haben ihren eigenen  Verein, das Cineforum. Das ist so etwas wie die andere Seite der Gasse.

Ewig ließe sich Südtirol abschreiten in dieser Gasse, das Leben, das an einem einzigen Fleck auf der Welt zu beschreiben wäre, hört nie auf: zweigt ab nach überall hin in Südtirol, hinaus aufs Land, das mit zunehmendem Abstand von Bozen deutscher wird, bis es nur noch deutsch ist und die Südtiroler, die unter dem Faschismus gut Italienisch und schlecht Deutsch lernten, immer schlechter Italienisch sprechen, ohne recht viel besser Deutsch zu können. Trotzdem sind sie immer aufgeblähter in ihrem Deutschsein, reagieren immer gereizter – oder auch nur unsensibler, achtloser, abgelenkter vom ungestörten eigenen Wir-Gefühl – auf die schwindende italienische Präsenz.

Viele Häuser, die man durch die Streitergasse betritt, haben die Fenster zur Laubengasse hinaus, dahinter liegt der Waltherplatz  mit dem – im Zuge des Nationalitätenkampfes um 1900 – aufgestellten Waltherdenkmal, Blick nach Süden. In Trient wurde um dieselbe Zeit Dante Alighieri dagegen gestellt, Blick nach Norden. Die Frontstellung war gewollt, wiewohl sie von den Dichtern überlistet wurde – sie schauen sich an, schauen einander ins Kulturland. Aber die Vergangenheit ist zählebig: Wenn die Schützen trommelwirbelnd zum Waltherplatz ziehen und diesen machtvoll besetzen, zuckt das italienische Bozen zusammen. Wehen am Siegesplatz die italienischen Fahnen, und sei es nur zu einem (selten gewordenen) Fußballsieg, empört sich das deutsche Bozen. 2001 wollte ausgerechnet die italienische Ratsmehrheit um einen friedensuchenden, als Betbruder belächelten Bürgermeister den Siegesplatz in Friedensplatz umbenennen; die Mehrheit der italienischen Bozner forderte den alten Namen 2002 in einem zornigen Referendum wieder zurück: weil sie sich den Siegesplatz nicht nehmen lasse, weil eh alles deutscher würde in Südtirol, weil der Sieg – mangels anderer Beheimatung – ihr Existenzrecht in Südtirol begründet, obwohl da ja noch das ganz simple Leben einer Gasse im deutschen Schoß des deutschen Südtirols wäre.

Die Streitergasse zweigt vom obersten Ende des Obstmarktes ab, dem Wahrzeichen Altbozens, in dem die Händler Pakistani oder Trientner und immer rarer Südtiroler sind – denen wird die Arbeit zu gscherig. Monatelang war auf einem Stand das Foto einer Bäuerin mit Kopftüchl aufgestellt, das Andenken an eine verstorbene Standbesitzerin, der lange niemand und schließlich ein Pakistani folgte. Kopftuch tragen nur noch die alten Frauen und die jungen Musliminnen in Bozen. Ein iranischer Teppichhändler hängt neben dem Szenelokal Nadamas seine Teppiche und die Pace-Fahne aus. Auch Südtirol gleitet, wiewohl geschützt gegen italienische Übergriffe, ins postautonome globale Zeitalter hinein. Der Patriotismus ist Landesdoktrin und eigentliche Religion, aber damit er auszuhalten ist, schmückt sich das Land mit Exotik: Bauchtanzkurse für Bürgersfrauen übertrumpfen die biederen Walzerkurse für pubertierende Pennäler, aus dem Landestopf fallen Brosamen ab für den Dalai Lama und einige Armenviertel der Welt, in denen sich dann der Südtiroler Landeshauptmann von Negerkinderlein Blumen umhängen lässt. Solches Flair ist beliebt, aber jede nähere und tiefere Störung der Tiroler Einheit und Reinheit führt zur nationalen Wallung und zur Allergiereaktion.

Da holt sich das postautonome Südtiroler nur selber ein, kehrt – widerstrebend, komplexbeladen, ungeläutert -  zum Eingeständnis, zur Sichtbarkeit einer Vielfalt und Durchmischung zurück, die dem Land Charakter, Eigenart, Reiz gab. In Tramin, wo einst die Römer durchzogen, haben viele deutsche Bauern einen gedrungenen Wuchs und heißen Bologna, Ferrari, Calliari – ein rein deutsches Südtiroler Dorf wohlgemerkt, das wie kaum ein anderes Wert darauf legt, dass Italiener ja keine Wohnung bekommen. Sonst müsste am Ende noch der Pfarrer eine italienische Messe halten, und spätestens dann wären die Deutschen nicht mehr unter sich, die Deutschen, die Bologna, Ferrari, Calliari heißen. Wir sind von Tramin nach Bozen gezogen, meine Frau zurück in ihre Heimatstadt, ich weg aus meinem Unterland: in Neumarkt aufgewachsen, wo das Nebeneinander der Sprachgruppen älter ist als die Annexion Südtirols durch Italien – und daher unbelasteter; dann nach Tramin verschlagen, das im Winter nur deutsch und im Sommer auch noch bundesdeutsch ist. Etwas hat gefehlt in dieser ungestört deutschen Heimat. Gierig atmeten wir Bozens Gewürzvielfalt ein, und standen wieder fassungslos vor der Realität: italienische Bozner etwa, die sich über deutsche Aufschriften aufregen, weil man schließlich in Italia sei.

Italiener, die als Touristen ins Land kommen, schauen sich in Bozen um, als wären sie in einer anderen Welt: jubeln den Schützen mit ihren nackten Waden, Lederhosen, Federhüten und Schießprügeln zu, wiewohl diese gegen alles Welsche und für das deutsche Tirol marschieren, füllen am Speckfest ihre Kofferräume mit schnell geräucherten Speckhälften von holländischen, bayrischen und zunehmend österreichischen Importschweinen, bestaunen den Kitsch am Christkindlmarkt. Je vermeintlich tirolerischer, desto besser, so sehr, dass die Südtiroler Marketing-GmbH. 2004 glaubte, nur noch auf „Südtirol“ im Logo setzen zu müssen – ohne die Übersetzung Alto Adige. Die italienischen Touristen mögen es goutieren, die italienischen Südtiroler sahen einmal mehr ihr Existenzrecht bedroht. Bis dahin hatte die Tourismusburg mit „Südtirol Italia“ geworben, wobei Italia weniger eine Zugabe an italienische Gäste war, als vielmehr die Lockbezeichnung für deutsche Urlauber. Dass nun allein auf „Südtirol“ gesetzt werden soll, spricht für das neue Südtiroler Selbstwertgefühl: wir sind uns selbst genug.

Zur selben Zeit wie wir zog ein italienisches Paar in das neu restaurierte Haus Nr. 43 in der Streitergasse ein: Sie eine Lehrerin aus Apulien, er ein Sozialarbeiter aus Bergamo. Sie waren wegen der Arbeit nach Südtirol gekommen, denn Südtirol ist eine Insel der Vollbeschäftigung in Europa. Anfangs sind sie von allem begeistert und schuften sich ab, um grad die Miete für ein Monolocale zahlen zu können, bald aber erkundigen sie sich nach einer Wohnung in Trient: Dort habe man es als Italiener leichter, lebe in einem vertrauteren Ambiente, zahle weniger Miete. Ein neues Fahrrad wurde ihnen gestohlen, weil sie keinen Hinterhof fanden, mühsam schleppen sie nun die Räder allabendlich hinauf in den zweiten Stock. Die massive italienische Zuwanderung unter dem Faschismus und in der ersten demokratischen Nachkriegsära wurde abgebremst durch die Bomben der Sechziger und die Schutzzäume der Südtirol Autonomie (bis hin zu Sperrklauseln fürs Wahlrecht); jetzt ziehen mehr Italiener weg als zu, weil manche im Alter zurück in die Heimat wollen, weil den Jungen, die nicht Deutsch lernen, die italienischen Großstädte mehr Zukunft bieten. Meine Nachbarn sind noch da, wirken etwas desillusioniert, aber hängen auch schon an dieser komischen Gasse, wo einem das Rad gestohlen wird, wenn man keinen Innenhof hat. Vielleicht sind sie ja doch ein bisschen daheim.

In ihrem unteren Auslauf mündet die Streitergasse in die Bindergasse, nach den Fassbindern benannt, eine ehemalige Handwerkergasse, in der es immerhin noch zwei Bäcker gibt. Das Eckhaus Streitergasse-Bindergasse bildet mit der Volksbuchhandlung einen kultivierten Abschluss. Eine schöne Symbolik: Die katholische Verlagsmacht Athesia besetzt die Lauben, die rote Volksbuchhandlung, von der Wiener Sozialdemokratie gestiftet, liegt in der Streitergasse. Jetzt sind die ideologischen Grenzen aufgeweicht, ähnelt sich das Buchangebot im Schaufenster (Bergbildbände da, Bergbildbände hier), schwinden die Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Straßenreihe. Die Bindergasse verbindet Lauben und Streitergasse, ist zur Wirtshausecke Bozens geworden: Mit dem Sargant ist zwar eines der ältesten, wurmstichigen Lokale verschwunden, die meisten backen nun Pizzas, aber auf schmiedeeisernen Schildern (Eisenhut, Pfau, Weißes Rössl) überlebt ein Stück Altbozen. Wenn’s dunkel wird, leuchtet ein tagsüber verborgenes Schild violett auf, lockt in schummrige Räume, die vornehmere Gäste durch die Toilettentür einer Pizzeria betreten und verlassen. In den umliegenden Bars langweilen sich untertags die Frauen aus Südamerika, aus Afrika, aus dem Osten und warten, dass es Abend wird und ihre Schicht anfängt. In meinem Unterland, wo sie den Dienst auf der Straße verrichten, spotten die Männer in Versammlungen öffentlich und moralisch über die „schwarzen Wehrsteine“, unöffentlich und doppelmoralisch biegen sie mit dem Auto in die Wiesen ein und putzen sich danach ihre Säfte in den blauen Schurz. Für Toulous Lautrec war solches Ambiente andererseits die einzige Heimat.  

An diesem Eck, wo vor der Bar Excelsior die Damen sitzen und zahnluggete Herren ihnen augenzwinkernd ein Bier hinschieben, traf ich – fast auf den Tag genau ein Jahr nach seinem Leserbrief – wieder Johnny. Gut gelaunt wie immer, noch auf ein Bier aus an diesem Abend, bis „mein Hons“ zur Eva heimkehren würde. Ein anderer Heimkehrer winkt ihm aus dem Excelsior zu und fragt ihn, ob er nicht ein Bier trinken wolle, aber Johnny winkt ab. Das Excelsior ist eines der italienischen Lokale in der Streitergasse, daneben wäre die Mitzi, „die ist noch deutsch“, aber die hat um diese Zeit schon zu. Oh Johnny, es zieht ihn hin, aber Dr. Hans Bachmann fällt nicht hin. Er hat genau an diesem Tag wieder einen Leserbrief über die Dr.-Streiter-Gasse geschrieben, zum Anlass des bald letzten deutschen Verlustes an der Beisl-Front, der Sonderbar. Die Önothek Enovit am oberen, die Mitzi am unteren Ende der Gasse sind die allerletzten deutschen Lokale in der Streiter-Gasse, jedenfalls in jener Einteilung, die Dr. Hans Bachmann vornimmt. Johnny tut es vielleicht leid, da wären ja auch hübsche Mädels drin, lustige Burschen, und er ist ja einer von ihnen. Aber Dr. Hans Bachmann kann nicht: Er sucht eine Heimat, die ungestört ist von fremden, schrillen, laut tönenden Eindringlingen in den Schoß seiner Altstadt, die der Schoß Deutschsüdtirols ist. Johnny alias Dr. Hans Bachmann ist zu bedauern: er hat keine Heimat mehr in der Dr.-Streiter-Gasse. Der Südtiroler Heimattaumel macht heimatlos, obwohl es doch so schön heimelig wäre in seiner, meiner, unserer Gasse.

„Nun sind sie unter sich: Bar reiht sich an Bar. Nur die „Sonderbar“ ist nicht mehr. „Salve“ heißt dort nun der Gruß zur Einkehr des Gastes in der Dr.-Streiter-Gasse, wo nur mehr wenig an einst erinnert. Ein weiterer Stein wurde jüngst aus dem Mosaik gebrochen. Bunt  und mehrsprachig und ein bisschen verrückt, so fanden sich die Gäste in der „Sonderbar“ ein. Mit dem sonderbar ist es nun wohl vorbei, neu und italienisch ist die Führung. Das tut nichts zur Sache; anpassen soll sich der Gast, so ist es Gesetz in der Hauptstadt des Landes. Nun ist die Straße mit ihrem historischen Reiz fast gänzlich in fremder Hand. Auch tummelt sich dort jetzt viel lautes Volk und belagert die Budel bis tief in die Nacht. Wer die Gesellschaft von einst hier sucht, muss anderswohin. Nur „Mitzi“ und „Enovit“ halten dem stand. Sonst ist die Streitergasse fremd geworden.“
Dr. Hans Bachmann, Mai 2004

An den Seitenanfang
Zurück zu Veröffentlichungen
Zurück zu Fremdgehen/Forschungsprojekt "Heimat"
Home